Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Konservatorium studiert …«
»Wenn ein ›Schwarzer‹ mit einem Mädchen geht … mit einem von unseren Mädchen … Kastrieren sollte man den.«
»Wofür sie gehasst werden? Wegen ihrer braunen Augen, wegen der Form ihrer Nase. Man hasst sie einfach so. Bei uns hasst jeder irgendwen: seine Nachbarn, die Bullen, die Oligarchen … die blöden Amis … Wen auch immer! Es liegt viel Hass in der Luft … man bekommt keinen Kontakt zu einem Menschen …«
Gafchar Dshurajewa
»… Der Aufstand des Volkes, den ich gesehen habe,
hat mir einen Schreck fürs ganze Leben eingejagt.«
Es ist Mittagszeit. Gafchar und ich trinken Tee aus tadschikischen Teeschalen und unterhalten uns weiter.
Irgendwann werde ich noch mal verrückt von dem, woran ich mich erinnere …
Das Jahr 1992 … Statt der Freiheit, auf die wir alle gewartet hatten, begann ein Bürgerkrieg. Leute aus Kulob töteten Pamirer, Pamirer töteten Kulober … Die Karateginer, die Hissorer, die Garmer 2 – alle sonderten sich ab. An den Häuserwänden hingen Plakate: »Russen, Hände weg von Tadschikistan!« »Kommunisten, haut ab in euer Moskau!« Das war nicht mehr mein geliebtes Duschanbe … Durch die Straßen zogen Horden mit Eisenstangen und Steinen in der Hand … Vollkommen friedliche, stille Menschen wurden zu Mördern. Noch gestern waren sie andere gewesen, hatten in der Tschaichana XLIII friedlich Tee getrunken, und nun liefen sie mit Eisenstangen herum und schlitzten Frauen den Bauch auf … Zertrümmerten Läden und Kioske. Ich ging auf den Basar … An den Akazien hingen Hüte und Kleider, auf der Erde lagen Tote, alle durcheinander: Menschen und Tiere … (Sie schweigt.) Ich erinnere mich … Es war ein schöner Morgen. Ich dachte nicht mehr an den Krieg. Ich glaubte, alles würde wieder wie früher. Da blühte ein Apfelbaum, eine Aprikose … Es gab keinen Krieg. Dann machte ich das Fenster auf und sah eine schwarze Menschenmenge. Sie marschierten schweigend. Plötzlich drehte sich einer um, unsere Blicke trafen sich … Der Junge war offensichtlich arm, und sein Blick sagte mir: Ich könnte jetzt in dein Haus kommen und machen, was ich will, das ist meine Stunde … Das sagten seine Augen … Ich erschrak … Ich wich vom Fenster zurück, zog die Gardinen und die Vorhänge zu, rannte los, schloss alle Türen ab und verkroch mich im hintersten Zimmer. In diesen Augen hatte etwas Wildes gelegen … Eine Menge hat immer etwas Satanisches. Ich fürchte diese Erinnerungen … (Sie weint.)
Ich habe gesehen, wie auf dem Hof ein russischer Junge erschlagen wurde. Niemand kam raus, alle hatten die Fenster geschlossen, ich lief im Bademantel hinaus. »Lasst ihn in Ruhe! Er ist doch schon tot!« Er lag reglos da … Sie gingen weg. Aber bald kamen sie wieder und schlugen ihn weiter, genauso junge Kerle wie er selber. Jugendliche … noch halbe Kinder … Ich rief bei der Miliz an – sie kamen, sahen, wer da verprügelt wurde, und fuhren wieder weg. (Sie schweigt.) Vor kurzem habe ich in Moskau bei Bekannten jemanden sagen gehört: »Ich liebe Duschanbe. Das war eine so interessante Stadt! Ich vermisse diese Stadt.« Ich war diesem Russen so dankbar! Die Liebe ist unsere einzige Rettung. Auf das Böse des Betenden hört Allah nicht. Allah lehrt: Du sollst keine Tür öffnen, die du nachher nicht wieder schließen kannst … (Pause.) Ein Freund von uns wurde getötet … Er war Dichter. Die Tadschiken lieben Verse, in jedem Haus gibt es Bücher mit Versen, wenigstens eins oder zwei; ein Dichter ist bei uns ein Heiliger. Den darf man nicht anrühren. Und dieser Dichter wurde getötet! Vorher hatten sie ihm die Arme gebrochen … Für das, was er geschrieben hat … Kurze Zeit später wurde ein anderer Freund getötet … Er hatte keinen einzigen blauen Fleck am Körper, sie hatten nur auf den Mund geschlagen … Für das, was er gesagt hatte … Es war Frühling. Es war so sonnig und warm, und die Menschen töteten einander … Wir wären am liebsten in die Berge gegangen.
Alle gingen weg. Um sich zu retten. Freunde von uns lebten in Amerika. In San Francisco. Wir sollten zu ihnen kommen. Sie mieteten eine kleine Wohnung für uns. Es war so schön dort! Der Pazifik … Wohin man auch geht, er ist überall. Ich saß tagelang am Meer und weinte, ich konnte nichts dagegen tun. Ich war aus einem Krieg gekommen, in dem man wegen einer Tüte Milch getötet werden konnte … Ein alter Mann kam den Strand entlang, die Hosenbeine
Weitere Kostenlose Bücher