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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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»Reiseführer« – er ist nicht zum ersten Mal hier – und lädt uns zu sich ein. Wir betreten das Zimmer: Am Eingang Kinderwagen und ein Berg Schuhe. In der Ecke ein Herd, eine Gasflasche, dicht daneben Tische und Stühle von nahe gelegenen Müllkippen. Den gesamten übrigen Raum nehmen selbstgebaute Doppelstockbetten ein.
    Es ist Abendbrotzeit. Etwa zehn Personen sitzen am Tisch. Wir machen uns bekannt: Amir, Churschid, Ali … Die Älteren, die noch eine sowjetische Schule besucht haben, sprechen akzentfrei russisch. Die Jüngeren sprechen es nicht mehr. Sie lächeln nur.
    Alle freuen sich über die Gäste.
     
    »Wir essen gleich etwas«, lädt uns Amir, einstiger Lehrer und hier so etwas wie ein Ältester, zu Tisch. »Probieren Sie unseren tadschikischen Plow. Der schmeckt himmlisch! Das ist Brauch bei uns Tadschiken: Triffst du in der Nähe deines Hauses einen Menschen, musst du ihn zu dir einladen und ihm eine Schale Tee anbieten.«
     
    Das Diktiergerät kann ich nicht einschalten – sie haben Angst. Ich greife zum Stift. Hier kommt mir ihr bäuerlicher Respekt vor dem Schreibenden zugute. Manche von ihnen kommen aus Kischlaks, andere aus den Bergen. Und sind nun in einer gigantischen Megapolis gelandet.
     
    »Moskau ist gut, es gibt viel Arbeit. Aber das Leben hier macht Angst. Wenn ich allein die Straße entlanggehe … Sogar am Tag … Dann schaue ich jungen Männern nicht in die Augen – sie könnten mich töten. Man muss jeden Tag beten …«
     
    »In der Vorortbahn wurde ich von drei Männern angesprochen … Ich kam von der Arbeit. ›Was machst du hier?‹ ›Ich fahre nach Hause.‹ ›Wo ist denn dein Zuhause? Wer hat dich hierher eingeladen?‹ Sie schlugen mich. Sie schlugen auf mich ein und brüllten: ›Russland den Russen! Es lebe Russland!‹ ›Jungs, warum tut ihr das? Allah sieht alles.‹ ›Dein Allah sieht dich hier nicht. Wir haben unseren eigenen Gott.‹ Sie haben mir Zähne ausgeschlagen … mir eine Rippe gebrochen … Der Wagen war voll besetzt, aber nur ein junges Mädchen hat sich eingemischt: ›Lasst ihn in Ruhe! Er hat euch nichts getan.‹ ›Was willst du? Ist doch bloß ein Chatsch.‹
     
    »Raschid wurde getötet … Dreißig Messerstiche. Kannst du mir mal sagen, warum gleich dreißig Stiche?«
     
    »Alles ist Allahs Wille … Einen armen Mann beißen die Hunde auch auf einem Kamel.«
     
    »Mein Vater hat in Moskau studiert. Jetzt trauert er Tag und Nacht der UdSSR nach. Er wollte unbedingt, dass ich in Moskau studiere. Aber hier werde ich nur verprügelt, von Polizisten, vom Arbeitgeber … Und ich lebe im Keller wie eine Katze.«
     
    »Mir tut es nicht leid um die UdSSR … Onkel Kolja, unser Nachbar … er war Russe … Er schrie meine Mutter immer an, wenn sie ihm auf Tadschikisch antwortete. ›Sprich normal. Auch wenn das euer Land ist – wir haben hier die Macht.‹ Dann weinte meine Mutter immer.«
     
    »Ich hatte heute Nacht einen Traum: Ich gehe unsere Straße entlang, die Nachbarn verbeugen sich: ›Salam aleikum.‹ ›Salam aleikum‹ … In unseren Kischlaks gibt es nur noch Frauen, Alte und Kinder.«
     
    »Zu Hause habe ich fünf Dollar im Monat verdient … Ich habe eine Frau und drei Kinder … In den Kischlaks kriegen die Leute jahrelang keinen Zucker zu sehen …«
     
    »Ich war noch nie auf dem Roten Platz. War noch nie bei Lenin. Immer nur Arbeit! Arbeit! Spaten, Spitzhacke, Trage. Den ganzen Tag bin ich vor Schweiß triefnass wie eine Melone.«
     
    »Ich hab einem Major Geld gezahlt für Papiere. ›Möge Allah dir Gesundheit schenken. Du bist ein guter Mensch!‹ Aber die Papiere waren gefälscht. Ich wurde in den ›Affenkäfig‹ gesperrt. Wurde geschlagen und getreten.«
     
    »Ohne Papiere bist du kein Mensch …«
     
    »Ein Mensch ohne Heimat ist wie ein streunender Hund … Jeder kann ihn drangsalieren. Die Polizisten halten mich zehnmal am Tag an: ›Deine Papiere.‹ Das eine Papier ist da, ein anderes fehlt. Wenn du ihnen kein Geld gibst, schlagen sie dich.«
     
    »Was sind wir hier? Bauarbeiter, Packer, Hauswarte, Tellerwäscher … Wir arbeiten hier nicht als Manager …«
     
    »Meine Mutter ist zufrieden, ich schicke ihr Geld. Sie hat ein hübsches Mädchen für mich gefunden, ich habe sie noch nicht gesehen. Meine Mutter hat sie ausgewählt. Wenn ich heimkomme, werde ich heiraten.«
     
    »Ich hab den ganzen Sommer in einem Vorort bei einem Reichen gearbeitet, und am Ende hat er mich nicht bezahlt. ›Hau ab! Hau ab!

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