Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
Schmeichelei, mit so einfachen Worten wie »mein Lieber«, »mein Guter, du«, »Ich wusste, dass du ein richtiger Mann bist und einer Frau helfen wirst.« Jungs, sage ich zu den Sadisten in Uniform, ich glaube an euch. Ich glaube daran, dass ihr Menschen seid. Mit einem Polizeigeneral habe ich mich lange unterhalten … Er war kein Idiot, kein Kommisskopf, sondern ein gebildet wirkender Mann. »Wissen Sie«, sagte ich zu ihm, »bei Ihnen arbeitet ein echter Gestapo-Mann. Ein richtiger Foltermeister, alle haben vor ihm Angst. Die Obdachlosen und Gastarbeiter, die ihm in die Hände fallen, macht er zu Invaliden.« Ich dachte, er würde entsetzt sein oder erschrocken, würde die Standesehre verteidigen. Doch er sah mich nur an und lächelte. »Nennen Sie mir seinen Namen. Ein toller Mann! Wir werden ihn befördern, ihn auszeichnen. Solche Kader muss man sich warmhalten. Ich werde ihm eine Prämie zahlen.« Ich war sprachlos. Und er fuhr fort: »Ich sage Ihnen ganz offen … Wir machen die Bedingungen für euch hier absichtlich unerträglich, damit ihr möglichst schnell wieder verschwindet. In Moskau gibt es zwei Millionen Gastarbeiter, so viele Zugereiste kann die Stadt nicht verkraften. Ihr seid zu viele.« (Sie schweigt.)
    Moskau ist eine schöne Stadt … Als wir beide durch Moskau gegangen sind, haben Sie ständig gesagt: »Wie schön Moskau geworden ist! Eine richtige europäische Hauptstadt!« Ich aber habe kein Gefühl für diese Schönheit. Wenn ich die neuen Gebäude sehe, denke ich: Hier sind zwei Tadschiken umgekommen, vom Baugerüst gefallen … hier ist einer im Zement eingemauert worden … Ich denke daran, für welchen Hungerlohn sie hier geschuftet haben. An ihnen verdienen alle: Beamte, Polizisten, die Leute von der Wohnungsverwaltung … Ein tadschikischer Hauswart unterschreibt, dass er dreißigtausend Rubel bekommt, in Wirklichkeit kriegt er siebentausend ausgezahlt. Den Rest teilen die diversen Natschalniks unter sich auf … die Natschalniks der Natschalniks … Die Gesetze sind wirkungslos, anstelle des Gesetzes herrschen Geld und Gewalt. Der kleine Mann ist am machtlosesten, sogar ein wildes Tier im Wald ist besser geschützt als er. Die Tiere sind bei euch durch den Wald geschützt, bei uns durch die Berge … (Sie schweigt.) Ich habe den größten Teil meines Lebens im Sozialismus verbracht und denke oft daran zurück, wie wir den Menschen idealisiert haben; ich habe damals gut von den Menschen gedacht. In Duschanbe habe ich an der Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Als Kunsthistorikerin. Ich dachte, die Bücher … das, was der Mensch über sich geschrieben hat, das sei die Wahrheit … Aber nein, das ist nur ein winziger Teil der Wahrheit … Ich bin schon lange keine Idealistin mehr, ich weiß inzwischen viel zu viel … Zu mir kommt oft ein junges Mädchen, sie ist krank … Bei uns war sie eine berühmte Geigerin. Warum ist sie verrückt geworden? Vielleicht, weil man zu ihr gesagt hat: »Sie spielen Geige – wozu? Sie beherrschen zwei Sprachen – wozu? Sie sollen putzen und fegen. Ihr seid hier Sklaven.« Dieses Mädchen spielt nicht mehr Geige. Sie hat alles vergessen.
    Dann war da noch ein junger Mann … Polizisten hatten ihn irgendwo bei Moskau aufgegriffen und ihm alles Geld abgenommen, aber er hatte nur wenig. Sie wurden wütend. Brachten ihn in den Wald. Verprügelten ihn. Es war Winter, es war sehr kalt. Sie zogen ihn bis auf die Unterhose aus … Hahaha … Sie zerrissen alle seine Papiere … Das alles erzählte er mir. Ich fragte: »Wie hast du dich gerettet?« »Ich dachte, ich würde sterben, ich bin barfuß durch den Schnee gelaufen. Und plötzlich, wie im Märchen, entdeckte ich eine Hütte. Ich hab ans Fenster geklopft, und ein alter Mann kam raus. Dieser Alte gab mir einen Schafpelz zum Wärmen, stellte mir Tee hin und Konfitüre. Er gab mir was zum Anziehen. Am nächsten Tag brachte er mich ins nächste große Dorf und fand einen LKW , der mich nach Moskau fuhr.«
    Dieser alte Mann … auch das ist Russland …
     
    Aus dem Nebenzimmer ruft jemand: Gafchar Kandilowna, hier möchte jemand zu Ihnen.« Ich warte, bis sie zurückkommt. Ich habe Zeit, und ich erinnere mich an verschiedene Gespräche in Moskauer Wohnungen.
In Moskauer Wohnungen
     
    »Alle kommen sie her … Die gutmütige russische Seele …«
     
    »Das russische Volk ist überhaupt nicht gut. Das ist ein großer Irrtum. Es ist mitleidig und sentimental, aber nicht gut. Letztens hat irgendwer einen

Weitere Kostenlose Bücher