Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
hochgekrempelt, in einem bunten T- Shirt. Er blieb bei mir stehen. »Was hast du?« »In meiner Heimat ist Krieg. Der Bruder tötet den Bruder.« »Bleib hier.« Er sagte, der Ozean und die Schönheit würden den Schmerz heilen … Lange tröstete er mich. Und ich weinte. Das war meine einzige Reaktion auf gute Worte – Ströme von Tränen, gute Worte brachten mich heftiger zum Weinen als die Schießereien zu Hause. Das Blutvergießen.
Aber ich konnte nicht in Amerika leben. Es zog mich zurück nach Duschanbe, und wenn das zu gefährlich war, wollte ich wenigstens näher an zu Hause sein. Also zogen wir nach Moskau … Einmal besuchte ich dort eine Dichterin. Es wurde endlos gemeckert: Gorbatschow ist ein Schwätzer … Jelzin ein Säufer … das Volk ist hirnloses Vieh … Wie oft hatte ich das schon gehört? Tausende Male! Die Gastgeberin wollte meinen Teller abräumen und abwaschen, aber ich ließ sie nicht – ich kann alles von einem Teller essen. Ob Fisch oder Kuchen. Ich kam aus dem Krieg … Bei einem anderen Schriftsteller war der Kühlschrank voll mit Käse und Wurst – die Tadschiken hatten schon vergessen, was das ist –, und wieder hörte ich den ganzen Abend Gemecker: Die Regierung ist schlecht, die Demokraten sind genau wie die Kommunisten … der russische Kapitalismus ist menschenfeindlich … Doch niemand tut etwas. Alle warten auf eine Revolution, die jeden Moment ausbrechen muss. Ich mag diese Küchenrebellierer nicht. Ich gehöre nicht zu ihnen. Der Volksaufstand, den ich gesehen habe, hat mir einen Schreck fürs ganze Leben eingejagt, ich weiß, was Freiheit in den Händen von Unerfahrenen bedeutet. Geschwätz endet immer mit Blutvergießen. Der Krieg ist ein Wolf, der auch in euer Haus kommen kann … (Sie schweigt.)
Haben Sie die Videos im Internet gesehen? Die haben mich total fertiggemacht. Ich hab eine Woche lang im Bett gelegen … Diese Videos … Sie haben getötet und das gefilmt. Sie hatten ein richtiges Drehbuch, mit festgelegten Rollen … Wie beim echten Film. Nun brauchten sie Zuschauer. Und wir schauen uns das an … sie zwingen uns das auf … Da geht ein Junge die Straße entlang, ein junger Tadschike … Sie rufen ihn heran, er geht zu ihnen, und sie werfen ihn zu Boden. Dann prügeln sie mit Baseballschlägern auf ihn ein, erst wälzt er sich am Boden, dann ist er still. Sie fesseln ihn und werfen ihn in den Kofferraum eines Autos. Im Wald binden sie ihn an einen Baum. Man sieht, dass derjenige, der filmt, nach einem besonders effektvollen Winkel sucht. Dem Jungen wird der Kopf abgeschnitten. Woher haben sie das? Das Kopfabtrennen … Das ist ein orientalisches Ritual. Kein russisches. Wahrscheinlich aus Tschetschenien. Ich erinnere mich … In einem Jahr töteten sie einfach mit Schraubenschlüsseln, dann kamen Dreizacks, danach Eisenrohre und Hämmer … Der Tod trat immer durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand ein. Und nun diese neue Mode … (Sie schweigt.) Diesmal wurden die Täter gefunden. Sie werden vor Gericht gestellt. Alles junge Männer aus guten Familien. Heute werden Tadschiken getötet, morgen vielleicht Reiche oder Menschen, die zu einem anderen Gott beten. Der Krieg ist ein Wolf … Er ist schon hier …
In Moskauer Kellern
Wir wählten ein Haus aus – einen Stalin-Bau im Zentrum von Moskau. Diese Häuser wurden unter Stalin für die bolschewistische Elite gebaut, darum heißen sie Stalin-Bauten, sie werden auch heute noch sehr geschätzt. Stalinscher Prunkstil: Stuckelemente und Reliefs an den Fassaden, Säulen, Wohnungen mit drei bis vier Meter hohen Decken. Die Nachkommen der einstigen Führer sind verarmt, hier ziehen jetzt »neue Russen« ein. Auf dem Hof stehen Bentleys und Ferraris. Im Erdgeschoss glitzern die Schaufenster teurer Boutiquen.
Oben herrscht ein Leben, unter der Erde ein anderes. Zusammen mit einem befreundeten Journalisten steige ich hinunter in den Keller … Lange irren wir zwischen rostigen Rohren und schimmligen Wänden herum, hier und da versperren uns gestrichene Eisentüren mit Schlössern und Plomben den Weg, aber das ist nur zum Schein. Auf ein bestimmtes Klopfzeichen hin wird geöffnet. Der Keller ist voller Leben. Ein langer, beleuchteter Flur: Zu beiden Seiten Zimmer – Sperrholzwände und bunte Vorhänge statt Türen. Die Moskauer Keller sind zwischen Tadschiken und Usbeken aufgeteilt. Wir sind bei Tadschiken. In jedem Raum leben siebzehn bis zwanzig Personen. Eine Kommune. Irgendwer erkennt meinen
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