Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Ich hab dich schließlich durchgefüttert.‹«
»Wenn du hundert Hammel besitzt, hast du recht. Dann hast du immer recht.«
»Mein Freund hat seinen Arbeitgeber um Geld für seine Arbeit gebeten. Die Polizei hat dann lange nach ihm gesucht. Sie haben ihn im Wald ausgebuddelt … Seine Mutter hat aus Russland einen Sarg zurückbekommen …«
»Wenn sie uns rausschmeißen … Wer soll dann Moskau weiterbauen? Die Straßen fegen? Für das Geld, das wir kriegen, geht kein Russe arbeiten.«
»Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Aryks XLIV und blühende Baumwolle, sie blüht zartrosa, wie ein Blumengarten.«
»Weißt du, dass bei uns ein großer Krieg war? Gleich nach dem Zerfall der UdSSR begannen die Schießereien … Gut dran war nur, wer eine Maschinenpistole hatte. Ich ging noch zur Schule … Jeden Tag habe ich zwei, drei Leichen gesehen. Meine Mutter ließ mich nicht mehr in die Schule. Ich saß zu Hause und las Omar Khayyam 3 . Bei uns lesen alle Omar Khayyam. Kennst du ihn? Wenn du ihn kennst, bist du meine Schwester.«
»Nur Ungläubige wurden getötet …«
»Allah entscheidet selbst, wer ein Gläubiger ist und wer ein Ungläubiger. Er wird selbst urteilen.«
»Ich war noch klein … Ich habe nicht geschossen. Meine Mutter hat mir erzählt, wie sie vor dem Krieg lebten: Auf einer Hochzeit wurde tadschikisch, usbekisch und russisch gesprochen. Wer wollte, betete, wer nicht wollte, ließ es bleiben. Sag mir, Schwester, warum haben die Leute so schnell gelernt, sich gegenseitig zu töten? Sie haben in der Schule alle Khayyam gelesen. Und Puschkin.«
»Das Volk ist eine Karawane von Kamelen, die mit der Peitsche angetrieben wird …«
»Ich lerne Russisch … Schöner Medchen, Brott, Geld … Chef schlecht …«
»Ich bin schon fünf Jahre in Moskau, und mich hat noch nie jemand gegrüßt. Die Russen brauchen uns ›Schwarze‹, damit sie sich als ›Weiße‹ fühlen und auf jemanden herabsehen können.«
»Wie es nach jeder Nacht einen Morgen gibt, so hat auch jede Trauer ein Ende.«
»Unsere Mädchen sind schöner. Nicht umsonst werden sie mit Granatäpfeln verglichen …«
»Alles ist Allahs Wille …«
Wir steigen aus dem Keller wieder hinauf. Jetzt sehe ich Moskau mit anderen Augen – seine Schönheit erscheint mir nun kalt und beunruhigend. Moskau, ist es dir denn ganz egal, ob du geliebt wirst oder nicht?
XLI Tschurki – a bwertend für Menschen aus Zentralasien und dem Kaukasus.
XLII Chatschi – Mz. von Chatsch , v om verbreiteten armenischen Namen Chatschaturjan abgeleitete abfällige Bezeichnung ursprünglich für Menschen aus dem Kaukasus, jetzt für alle aus den südlichen ehemaligen Sowjetrepubliken.
XLIII Tschaichana – Teestube.
XLIV Aryks – Wassergräben zur Bewässerung und Luftbefeuchtung in Zentralasien.
VOM HUNDSGEMEINEN LEBEN UND VON HUNDERT GRAMM
LEICHTEM SAND IN EINER KLEINEN WEISSEN VASE
Tamara Suchowej, Kellnerin, 29 Jahre alt
Das Leben ist hundsgemein! Das kann ich dir sagen … Es macht einem keine Geschenke. Ich hab in meinem Leben nichts Gutes und Schönes gesehen. Ich kann mich nicht erinnern … Und wenn du mich totschlägst – ich kann mich nicht erinnern! Ich hab’s mit Gift versucht und mit Aufhängen. Drei Selbstmordversuche … Diesmal hab ich mir die Venen aufgeschlitzt … (Sie zeigt mir ihren verbundenen Arm.) Hier … an dieser Stelle … Gerettet hat mich, dass ich eine ganze Woche geschlafen habe. Ich hab einfach geschlafen und geschlafen. So ist mein Körper … Eine Psychiaterin kam zu mir … Genau wie du jetzt hat sie mich gebeten: Erzähl, erzähl … Was soll ich erzählen? Der Tod macht mir keine Angst … Du bist umsonst hergekommen. Umsonst! (Sie dreht sich zur Wand und schweigt. Ich will gehen, aber sie hält mich zurück.) Na schön, hör zu … Das ist alles wirklich wahr …
… Als ich noch klein war … Da kam ich eines Tages aus der Schule, hab mich hingelegt, und am Morgen konnte ich nicht aufstehen. Sie brachten mich zum Arzt – er konnte nichts feststellen. Also zu einer weisen Frau … einer Heilerin … Wir bekamen eine Adresse … Die Alte legte Karten und sagte zu meiner Mutter: »Wenn Sie nach Hause kommen, schlitzen Sie das Kissen auf, auf dem Ihre Tochter schläft. Dort werden Sie ein Stück von einem Halstuch finden und Hühnerknochen. Den Stoff hängen Sie an ein Kreuz am Wegesrand, die Knochen geben Sie einem schwarzen
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