Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Tage später treffen wir uns noch einmal.
Früher verstand ich unser Leben … wie wir lebten … Aber heute verstehe ich es nicht … nein …
XLVI Euro-Renovierung – umgangssprachliche Bezeichnung für Renovierung nach westlichem Standard.
XLVII perestrelka – r uss. »Schießerei«.
VON TRÜGERISCHEM DUNKEL UND EINEM »ANDEREN LEBEN,
DAS MAN AUS DIESEM MACHEN KANN«
Jelena Rasdujewa, Arbeiterin, 37 Jahre alt
Für diese Geschichte fand ich lange keinen »Begleiter«, Erzähler oder Gesprächspartner – ich weiß gar nicht, wie ich diejenigen nennen soll, mit deren Hilfe ich durch menschliche Welten reise. Durch unser Leben. Alle lehnten ab: »Das ist ein Fall für den Psychiater.«, »Wegen ihrer kranken Phantasie hat eine Mutter ihre drei Kinder verlassen – damit sollte sich ein Gericht befassen, keine Schriftstellerin.« »Und Medea?«, fragte ich. »Was ist mit Medea, die aus Liebe ihre eigenen Kinder tötete?« »Das ist ein Mythos, Sie dagegen haben mit wirklichen Menschen zu tun.« Aber die Wirklichkeit ist für einen Künstler kein Ghetto. Auch sie ist eine freie Welt.
Dann erfuhr ich, dass es bereits einen Film über meine Protagonistin gab: Leiden (Filmstudio Fischka-Film). Ich traf mich mit der Regisseurin Irina Wassiljewa. Wir redeten, schauten uns den Film an und redeten wieder.
Aus den Erzählungen der Regisseurin Irina Wassiljewa
Irgendwer hatte mir mal von Jelena Rasdujewa und ihrer Liebe erzählt … Und mir gefiel diese Geschichte nicht, ich hatte Angst davor. Aber man redete lange auf mich ein, das würde ein großartiger Film über die Liebe werden, ich solle unbedingt hinfahren und ihn drehen. Das sei doch eine sehr russische Geschichte! Eine Frau, die einen Mann und drei Kinder hat, verliebt sich in einen Häftling, noch dazu in einen »Lebenslänglichen«, der wegen Mordes in besonders schwerem Fall zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und verlässt seinetwegen alles – ihren Mann, ihre Kinder, ihr Zuhause. Aber irgendetwas hielt mich zurück …
In Russland werden Sträflinge seit jeher geliebt, weil sie Sünder sind, zugleich aber auch Leidende. Sie brauchen Trost und Zuspruch. Diese Kultur des Mitleids wird sorgsam gehütet, besonders auf dem Land und in Kleinstädten. Dort leben einfache Frauen, sie haben kein Internet, aber sie benutzen die Post. Auf althergebrachte Weise. Die Männer trinken und prügeln sich, und die Frauen setzen sich abends hin und schreiben einander Briefe, die neben schlichten Geschichten aus dem Leben und diversem Alltagskram wie Schnittmustern und Rezepten am Ende stets Adressen von Gefangenen enthalten. Die eine hat einen Bruder im Gefängnis, der ihr von seinen Kameraden berichtet hat, die andere einen Nachbarn oder einen Klassenkameraden. Das geben sie untereinander weiter … Der und der hat gestohlen, getrunken, wurde eingesperrt, dann entlassen und ist wieder ins Gefängnis gekommen. Die übliche Geschichte! Hört man sich auf dem Land so um, hat die Hälfte der Männer schon gesessen oder sitzt noch. Und wir sind ja Christen, wir müssen den Unglücklichen helfen. Es gibt Frauen, die heiraten Männer, die mehrfach gesessen haben, sogar Mörder. Ich maße mir nicht an, Ihnen erklären zu wollen, was das ist … Das ist kompliziert … Aber die Männer haben ein Gespür für diese Frauen. Meist sind es unglückliche Frauen, die sich nicht verwirklichen konnten. Die einsam sind. Und nun werden sie auf einmal gebraucht, kümmern sich um jemanden. Für sie ist das eine Möglichkeit, etwas in ihrem Leben zu verändern. Eine Art Medizin …
Schließlich fuhren wir doch hin, um den Film zu drehen. Ich wollte davon erzählen, dass es auch in unserem pragmatischen Jahrhundert Menschen gibt, die nach einer anderen Logik leben. Und davon, wie schutzlos sie sind … Wir reden viel von unserem Volk. Die einen idealisieren es, die anderen halten es für stumpfes Vieh. Für das alte Sowok. Aber im Grunde kennen wir es nicht. Zwischen uns liegt eine tiefe Kluft … Ich erzähle mit meinen Filmen immer Geschichten, und jede Geschichte enthält alles. Vor allem die beiden Hauptelemente Liebe und Tod.
Ein entlegenes Dorf im Gebiet Kaluga … Wir fuhren hin … Ich schaute aus dem Fenster: Alles war endlos – die Felder, der Wald und der Himmel. Auf den Hügeln weiße Kirchen. Kraft und Ruhe. Etwas Archaisches. Wir fuhren und fuhren … Irgendwann bogen wir von der zentralen Landstraße ab auf eine kleine Chaussee … Oje,
Weitere Kostenlose Bücher