Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
aufgewacht. Ich weiß, dass sie am Kummer gestorben ist … Warum sterbe ich nicht? Ich wäre glücklich zu sterben, aber ich sterbe nicht. (Sie weint.) Als ich aus dem Sanatorium zurückkam … »Mein Kind, sie werden dich einsperren«, war das Erste, was meine Mutter zu mir sagte. »Sie werden dir nicht verzeihen, dass du die Wahrheit wissen willst.« Was war los gewesen? Ich war kaum weg, da bekam sie einen Anruf von der Miliz: »Binnen vierundzwanzig Stunden … in Zimmer soundso einfinden … Bei Nichterscheinen … Strafe … fünfzehn Tage Arrest …« Meine Mutter ist verängstigt, bei uns sind alle Menschen verängstigt. Zeigen Sie mir einen älteren Menschen, der nicht verängstigt ist. Doch das war noch nicht alles … Sie kamen ins Haus und befragten die Nachbarn: Was wir für Menschen seien … wie wir uns verhielten … Auch nach Oleska fragten sie … Ob sie mal betrunken gesehen worden sei … Ob sie Drogen genommen habe … Aus der Poliklinik forderten sie unsere Patientenakten an. Um zu überprüfen, ob vielleicht eine von uns mal in psychiatrischer Behandlung war. Ich war so gekränkt! Und wütend! Ich griff zum Hörer … Rief bei der Miliz an: »Wer hat meiner Mutter gedroht … sie ist über achtzig … Aus welchem Grund wurde sie vorgeladen?« Das Ganze endete damit, dass ich zwei Tage später eine Vorladung bekam: »… Zimmer soundso … Name des Beamten …« Meine Mutter weinte: »Sie werden dich einsperren.« Ich hatte vor nichts mehr Angst. Pfui über sie! Stalin müsste aus dem Grab auferstehen! Ich bitte ihn, aus dem Grab aufzuerstehen! Das ist mein Gebet … Er hat viel zu wenige unserer Natschalniks eingesperrt und erschossen. Viel zu wenige! Sie tun mir nicht leid. Ich will ihre Tränen! (Sie weint.) Ich kam in dieses Büro … der Beamte hieß Fedin … Ich bin gleich auf ihn los: »Was wollen Sie von mir? Meine Tochter wurde mir in einem nassen Sarg zurückgebracht … Reicht Ihnen das nicht?« »Sie sind eine ungebildete Frau … Ihnen ist wohl nicht klar, wo Sie sich befinden. Hier stellen wir die Fragen …« Erst war er allein … dann holte er Oleskas Kommandeur dazu … Klimkin … Endlich sollte ich auch ihn zu Gesicht bekommen! Er kam rein … Ich zu ihm: »Wer hat meine Tochter getötet? Sagen Sie mir die Wahrheit …« »Ihre Tochter war dämlich … Sie war verrückt!« Ach, das war so … Ich kann das gar nicht … Er wurde krebsrot … Er brüllte und stampfte mit den Füßen. Ach! Sie provozierten mich … Sie wollten, dass ich schrie und um mich schlug. Dass ich kratzte wie eine Katze. Das hätte bedeutet – ich bin verrückt, und meine Tochter war auch verrückt. Sie wollten mich mundtot machen … Uh-h-h …
Solange mein Herz schlägt … So lange werde ich nach der Wahrheit suchen … Ich habe vor niemandem Angst! Ich bin kein Scheuerlappen, keine Laus. Ich lasse mich nicht wieder in eine Schachtel einsperren. Sie haben mir meine Tochter in einem nassen Sarg gebracht …
Neulich saß ich in der Vorortbahn … Ein Mann setzte sich mir gegenüber. »Na, Mutter, dann mal los, was? Machen wir uns bekannt …« Er stellte sich vor: »Ehemaliger Offizier, ehemaliger Kleinunternehmer, ehemaliger ›Jablotschnik.‹ 5 Jetzt arbeitslos.« Und ich – egal, wonach ich gefragt werde, ich rede immer nur von einem: »Meine Tochter ist in Tschetschenien umgekommen … sie war Unteroffizierin der Miliz …« Er bat: »Erzähl es mir …« (Sie schweigt.) Er hat mir zugehört und mir seine Geschichte erzählt …
»Ich war auch dort. Nun bin ich zurück, und mein Leben funktioniert nicht mehr wie früher. Ich kann mich nicht in diesen Rahmen pressen. Arbeit finde ich nicht, keiner will mich nehmen: ›A-a-ah – aus Tschetschenien?‹ Ich habe Angst vor fremden Menschen … Mir wird übel von fremden Menschen … Aber wenn ich jemanden treffe, der in Tschetschenien war, ist er für mich wie ein Bruder …
… Ein alter Tschetschene stand an der Straße und schaute uns an – ein ganzes Auto voller Demobilisierter. Ich begriff: Er sah uns an und dachte: Ganz normale russische Jungs, aber gerade noch waren sie MP -Schützen, Maschinengewehrbesatzungen, Scharfschützen … Wir trugen alle nagelneue Jacken und Jeans. Von welchem Geld? Von dem, was wir dort verdient hatten. Und was war unser Job? Der Krieg … Das Schießen … Auch wenn dort Kinder und schöne Frauen waren. Aber nimm einem Soldaten die Waffe weg, steck ihn in Zivil … Dann ist er Traktorist, Lehrer,
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