Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Busfahrer, Student …
… Wir lebten hinter Stacheldraht. Umgeben von Wachtürmen und Minenfeldern. Eine enge, abgeschottete Welt. Wie ein Gefängnis. Raus konnten wir nicht – das war der sichere Tod. Wir waren Besatzer. Alle tranken, tranken bis zur Besinnungslosigkeit. Tag für Tag sieht man zerstörte Häuser, sieht, wie Sachen rausgeschleppt und Menschen getötet werden. Da bricht es auf einmal aus einem heraus. Man darf auf einmal viel mehr … Man darf sehr vieles … Man ist ein besoffenes Vieh, und man hat eine Waffe in der Hand. Und nichts als Sperma im Kopf …
… Unser Job war Henkersdienst … Wir starben für die Mafia, die uns nicht einmal bezahlte. Sie hat uns betrogen. Aber ich habe doch nicht hier, nicht hier auf der Straße habe ich Leute getötet, sondern im Krieg. Ich habe ein russisches Mädchen gesehen, das hatten diese Schakale vergewaltigt. Sie hatten ihr mit glühenden Zigaretten die Brust verbrannt, damit sie heftiger stöhnte …
… Ich kam mit viel Geld zurück … Ich habe mit meinen Freunden Wodka getrunken … mir einen gebrauchten Mercedes gekauft …«
(Sie wischt sich die Tränen nicht mehr ab.) Ja, da war meine Oleska also gewesen … Dorthin war sie geraten … Dieser elende Krieg … Er war weit weg gewesen … irgendwo weit weg … und nun ist er bei mir zu Hause. Zwei Jahre … zwei Jahre schon klopfe ich an Türen, laufe von Instanz zu Instanz. Ich schreibe an die Staatsanwaltschaft … im Kreis, im Bezirk … An den Generalstaatsanwalt. (Sie zeigt auf einen Stapel Briefe.) Überall werde ich abgewiesen … Ein Berg von Abweisungen! »Hinsichtlich des Todes Ihrer Tochter teilen wir Ihnen mit …« Und alle lügen: Sie sei am 13. November gestorben, dabei war es in Wirklichkeit der 11.; Blutgruppe 0, dabei hatte sie B; mal heißt es, sie sei in Uniform gewesen, dann ist von Zivil die Rede, von einem Kleid. Das Loch war in der linken Schläfe, und sie schreiben – rechts … Ich habe eine Eingabe an unseren Abgeordneten in der Staatsduma geschrieben – ich habe ihn gewählt, ich habe für ihn gestimmt. Damals hatte ich noch Vertrauen in unsere Regierung! Ich bekam einen Termin bei ihm. Dann stand ich unten im Gebäude der Staatsduma … Ich machte große Augen … Da war ein Juwelierladen: goldene Ringe mit Brillanten, goldene und silberne Ostereier … Kettenanhänger … Ich habe mein Lebtag nie so viel Geld verdient, wie dort der kleinste Brillantring kostete. Ein einziger Ring … Unsere Abgeordneten … Volksdeputierte … woher haben sie so viel Geld? Ich besitze einen Stapel Urkunden … und meine Mutter auch … Und sie – sie besitzen Gasprom-Aktien. Wir haben Papier, und sie haben Geld. ( Sie schweigt wütend.) Wozu bin ich dorthin gegangen … habe dort geweint … Holt Stalin zurück … Das Volk wartet auf Stalin! Sie haben mir meine Tochter genommen und mir einen Sarg zurückgebracht. Einen nassen Sarg … Und niemand will mit der Mutter reden … (Sie weint.) Ich könnte inzwischen selber bei der Miliz arbeiten … Tatortbegehung, Tathergang. Wenn es Selbstmord war, ist an der Pistole Blut … an den Händen sind Schmauchspuren … Damit kenne ich mich jetzt aus … Nachrichten im Fernsehen mag ich nicht. Alles Lüge! Aber Krimis … Morde … all so was … da lasse ich nichts aus. Morgens kann ich manchmal gar nicht aufstehen, Arme und Beine sind wie gelähmt … am liebsten würde ich liegen bleiben … Dann denke ich an Oleska … Und ich stehe auf und gehe los …
Stück für Stück hab ich mir alles zusammengesucht … Steinchen für Steinchen … Der eine hat sich betrunken verplaudert, sie waren ja siebzig Mann, ein anderer hat Bekannten gegenüber etwas angedeutet. Unsere Stadt ist klein … das ist nicht Moskau … Jetzt habe ich ein ungefähres Bild … was dort passiert ist … Sie hatten ein großes Besäufnis, zum Tag der Miliz. Sie ließen sich volllaufen und machten einen drauf … Wäre Oleska mit ihren Kameraden dort gewesen, aus ihrem Revier – aber es waren alles Fremde … Eine gemischte Einheit. Sie war bei den Leuten von der Verkehrsmiliz gelandet. Das sind die Könige, die haben die Taschen voller Geld. Sie stehen mit ihren MP an der Straße und verlangen Tribut. Und alle zahlen. Eine Goldgrube! Diese Jungs amüsieren sich gern … Töten, saufen und vögeln – das sind die drei Freuden im Krieg. Sie waren stockbesoffen, voll wie die Haubitzen … und wurden zum Vieh. Angeblich vergewaltigten sie sämtliche Mädchen dort.
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