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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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welches. Dann erfuhr ich, Dachsfett sei noch besser. Ich kaufte welches in der Apotheke. Das war sauteuer! Außerdem brauchte er Zigaretten, Büchsenfleisch … Ich suchte mir Arbeit in der Brotfabrik, dort ist der Lohn höher als auf der Farm, wo ich vorher war. Die Arbeit ist schwer. Die alten Öfen werden so heiß, dass wir uns ausziehen und in BH und Unterhosen herumlaufen. Ich schleppe Mehlsäcke von fünfzig Kilo und Tragen mit Brot von hundert Kilo. Ich schreibe ihm jeden Tag …
     
    Irina Wassiljewa
    So ist sie. Sehr impulsiv und zielstrebig. In ihr brodelt es, sie will alles sofort. Alles extrem, alles im Übermaß. Nachbarn haben mir erzählt … Einmal kamen tadschikische Flüchtlinge durch ihr Dorf, sie hatten sehr viele Kinder, sie hatten Hunger und nichts anzuziehen, da holte sie aus dem Haus, was sie konnte: Decken, Kissen … Löffel … »Uns geht es so gut, und sie haben nichts.« Dabei gibt es in ihrer Hütte kaum mehr als Tisch und Stühle … Jura und sie sind im Grunde arm, ernähren sich vor allem von ihrem Gemüsegarten – von Kartoffeln und Zucchini. Und von Milch. »Halb so schlimm«, beruhigte sie Jura und die Kinder, »wenn die Datschniki im Herbst wegfahren, lassen sie uns bestimmt was da.« Viele Moskauer haben dort ihren Sommersitz, es ist eine herrliche Gegend, besonders beliebt bei Malern und Schauspielern, sämtliche verlassenen Häuser sind inzwischen verkauft. Im Herbst sammeln die Dorfbewohner alles auf, was die Datschniki dagelassen haben, bis hin zu Plastiktüten. Das Dorf ist arm, voller alter Leute und Trinker … Ein anderes Mal … Eine Freundin von ihr hatte ein Kind bekommen, und sie besaß keinen Kühlschrank. Lena schenkte ihr den eigenen. »Meine Kinder sind schon groß, und sie hat ein Baby.« Hier! Nimm! Sie besitzt nichts und kann trotzdem noch so viel weggeben. Das ist jener russische Typus … jener russische Typus, die »weite russische Seele«, die schon Dostojewski verändern wollte, aber ich weiß, dass sie sich nie verändern wird. Das hat der Sozialismus nicht geschafft, und das schafft auch der Kapitalismus nicht. Das können weder Reichtum noch Armut. Drei Männer sitzen vorm Laden, haben sich für eine Flasche zusammengetan. Worauf trinken sie? »Sewastopol ist eine russische Stadt! Sewastopol wird wieder uns gehören!« Sie sind stolz darauf, dass ein Russe einen Liter Wodka trinken kann, ohne betrunken zu werden. Wenn sie an Stalin denken, dann nur an eines: dass sie unter ihm die Sieger waren …
    Am liebsten hätte ich das alles gefilmt … Ich zügelte mich, ich fürchtete, mich heillos zu verzetteln … Jedes Schicksal war eine Hollywood-Geschichte! Ein fertiges Drehbuch. Zum Beispiel Lenas Freundin Ira … Eine ehemalige Mathematiklehrerin, die wegen des miserablen Gehalts die Schule verlassen hat. Sie hat drei Kinder, und sie baten oft: »Komm, Mama, wir gehen zur Brotfabrik. Da riecht es so gut nach Brot.« Sie gingen abends hin, damit sie niemand sah. Jetzt arbeitet Ira genau wie Lena in der Brotfabrik und freut sich, dass ihre Kinder nun wenigstens genug Brot essen können. Sie stiehlt … Alle dort stehlen, nur so können sie überleben. Ihr Alltag ist hart und unmenschlich, aber ihre Seele ist lebendig. Sie sollten mal hören, worüber diese Frauen reden … Sie würden es nicht glauben … Sie reden über die Liebe. Ohne Brot kann man leben, aber nicht ohne Liebe … das wäre das Ende … Ira las die Briefe, die Lena von ihrem Häftling bekam, und ließ sich anstecken. Sie fand im nächstgelegenen Gefängnis einen Taschendieb. Der kam bald raus … Weiter entwickelte sich die Geschichte nach den Gesetzen der Tragödie … Schwüre: Liebe bis ans Grab! Hochzeit! Dann begann dieser Tolja … wieder zu trinken. Ira, die schon drei Kinder hatte, bekam noch zwei von ihm. Er randaliert, jagt sie durchs Dorf, doch wenn er morgens wieder nüchtern ist, schlägt er sich an die Brust und bereut. Ira … auch sie ist eine Schönheit! Und klug! Aber der russische Mann ist nun mal so beschaffen, dass er sich immer als Herr der Welt fühlt …
    Doch nun muss ich Ihnen von Jura erzählen … Das ist Lenas Mann … Im Dorf heißt er nur »der lesende Hirte«, er hütet die Kühe und liest. Ich habe bei ihm viele Werke russischer Philosophen gesehen … Man kann sich mit ihm über Gorbatschow unterhalten und über Nikolai Fjodorow 1 , über die Perestroika und über die Unsterblichkeit … Andere Männer trinken, er liest. Jura ist ein Träumer … von

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