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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Ihre eigenen Kameradinnen. Aber Oleska hat sich gewehrt oder hinterher gedroht: »Ich bringe euch alle in den Knast!« Doch sie ließen sie nicht gehen.
    Manche sagen auch etwas anderes … Sie hätten Wache geschoben, Autos kontrolliert. Da rennen alle herum wie aufgezogen, jeder will absahnen. Mit allen Mitteln. Irgendwer hatte angeblich Schmuggelware dabei, was und woher – das kann ich nicht sagen, ich will nicht lügen. Drogen oder was … Jedenfalls war alles abgesprochen. Und bezahlt. Es soll ein Niwa gewesen sein … alle erinnern sich an einen Niwa … Und Oleska hat sich quergestellt … sie wollte dieses Auto nicht durchlassen. Deshalb haben sie auf sie geschossen. Sie hat sich dem großen Geld in den Weg gestellt, wollte jemandem das Geschäft vermasseln. Angeblich war ein hoher Offizier darin verwickelt …
    Meine Mutter hat von einem Niwa geträumt … Ich war bei einer Wahrsagerin … der hab ich dieses Foto auf den Tisch gelegt … (Sie zeigt es.) »Ich sehe«, hat sie sagt, »ein Auto, einen Niwa …«
    Ich habe mich mit einer Frau unterhalten. Sie ist Krankenschwester. Ich weiß nicht, wie sie war, bevor sie nach Tschetschenien ging, vielleicht war sie einmal ein fröhlicher Mensch. Aber jetzt ist sie böse – böse, genau wie ich. Es gibt heutzutage viele verbitterte Menschen, sie schweigen, aber sie sind gekränkt. Alle wollten gewinnen im neuen Leben, aber kaum jemand hat gewonnen … Hat das große Los gezogen … Keiner wollte in einen Abgrund stürzen. Viele Menschen sind heute verbittert. (Sie schweigt.) Vielleicht wäre auch Oleska als eine andere heimgekehrt … als eine Fremde … Uh-h-h … (Sie schweigt.) Diese Frau hat mir ganz offen ihre Geschichte erzählt …
     
    »Ich bin wegen der Romantik hingegangen! Deswegen haben dort alle lange über mich gelacht. Aber wenn ich ehrlich bin: Wegen einer unglücklichen Liebe habe ich zu Hause alles verlassen. Für mich war es einerlei, ob ich von einem Tschetschenen erschossen werde oder vor Kummer sterbe …
    … Wer noch nie mit Leichen zu tun hatte, der glaubt, sie wären stumm. Lautlos. Aber da sind die ganze Zeit irgendwelche Geräusche. Irgendwo entweicht Luft, irgendwo reißt innen drin ein Knochen. Oder man hört ein Rascheln. Verrückt werden kann man davon …
    … Ich habe dort keinen Mann gesehen, der nicht trank und nicht um sich schoss. Sie betrinken sich und schießen, wohin sie wollen. Warum? Das kann keiner beantworten.
    … Er war Chirurg … Ich glaubte: Das ist Liebe. Bevor wir nach Hause zurückkehrten, sagte er zu mir: ›Ruf mich nicht an … schreib mir nicht … Wenn ich zu Hause fremdgehe, dann mit einer schönen Frau, mit der ich mich vor meiner Frau nicht schämen muss.‹ Ich bin keine Schönheit. Aber wir standen manchmal drei Tage hintereinander zusammen im OP . Das war ein Gefühl … stärker als Liebe …
    … Jetzt habe ich Angst vor Männern … Mit denen, die im Krieg waren, mit denen kann ich nicht … Das sind Hurenböcke! Alle! … Ich packte schon meine Sachen … ich wollte dies und das nach Hause mitnehmen … Einen Kassettenrecorder, einen Teppich … Da sagte der Chef unseres Hospitals: ›Ich lasse alles hier. Ich will den Krieg nicht nach Hause mitnehmen.‹ Wir haben den Krieg trotzdem mitgebracht, nicht mit irgendwelchen Sachen, sondern in unserem Herzen …«
     
    Sie haben mir Oleskas Sachen übergeben: ihre Jacke, ihren Rock … goldene Ohrringe, eine Kette. In einer Jackentasche lagen Nüsse und zwei kleine Tafeln Schokolade. Die hatte sie bestimmt für Weihnachten aufgehoben und wollte sie jemandem nach Hause mitgeben. Bitter ist das, bitter …
    Schön, Sie schreiben jetzt vielleicht die Wahrheit … Wem macht das schon Angst? Der Staat … der ist heutzutage unangreifbar … Uns bleibt nur eines: Gewehre und Streik. Sich auf die Gleise legen. Aber es gibt keinen Anführer … Sonst hätten sich die Menschen schon längst erhoben … Aber es fehlt ein Pugatschow 6 ! Wenn ich ein Gewehr in die Hand bekäme, ich wüsste, auf wen ich schießen würde … (Sie zeigt mir eine Zeitung.) Haben Sie das gelesen? Es gibt jetzt Touristenreisen nach Tschetschenien. Die Leute steigen in Militärhubschrauber und sehen sich das zerstörte Grosny an, die verbrannten Dörfer. Dort ist Krieg, und zugleich wird aufgebaut. Es wird geschossen und aufgebaut. Und Touristen gezeigt. Wir weinen noch, und irgendwer macht schon Geschäfte mit unseren Tränen. Macht Geschäfte damit wie mit Erdöl.
     
    Ein paar

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