Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
oje! Die russischen Straßen sind eine Sache für sich, da hat sogar mancher Panzer Probleme. Zwei, drei Schlaglöcher alle drei Meter – das gilt noch als gut. Rechts und links Dörfer … Krumme und schiefe Hütten mit kaputten Zäunen, auf den Straßen laufen Hühner und Hunde herum. Schon am Morgen stehen die Alkoholiker vor dem noch geschlossenen Laden Schlange. Alles ist so vertraut, dass es einem die Kehle zuschnürt … Im Zentrum steht nach wie vor ein gipsernes Lenin-Denkmal … (Sie schweigt.) Noch aus der Zeit … kaum zu glauben, dass es diese Zeit gegeben hat und dass wir einmal so waren wie damals … Als Gorbatschow kam, waren wir alle verrückt vor Freude. Wir steckten voller Träume und Illusionen. Diskutierten in unseren Küchen. Wir wollten ein neues Russland … Zwanzig Jahre später wurde uns klar: Woher sollte das kommen? Das gab es nicht und gibt es nicht. Wie irgendwer einmal treffend bemerkt hat: Im Laufe von fünf Jahren kann sich in Russland alles ändern, im Laufe von zweihundert Jahren aber ändert sich nichts. Diese endlosen Weiten und dazu die Mentalität von Sklaven … In Moskauer Küchen kann man Russland nicht verändern. Wir haben nun wieder das Zarenwappen, aber noch immer die stalinsche Hymne … Moskau ist russisch … kapitalistisch … Russland aber ist nach wie vor sowjetisch … Die Menschen dort haben noch keine Demokraten zu Gesicht bekommen, und wenn, würden sie sie in der Luft zerreißen. Die Mehrheit will ihre staatlich garantierte Ration und einen Führer. Billiger Selbstgebrannter fließt in Strömen … (Sie lacht.) Ich merke schon, wir gehören beide zur »Küchengeneration« … Wir wollten über die Liebe reden, aber schon nach fünf Minuten sind wir bei Russland und seinen Problemen. Aber Russland schert sich nicht um uns, es lebt sein eigenes Leben …
Ein betrunkener Mann zeigte uns, wo unsere Protagonistin wohnt. Sie trat aus der Hütte … Sie gefiel mir sofort. Tiefblaue Augen, hochgewachsen – eine richtige Schönheit. Eine russische Schönheit! Eine solche Frau würde Glanz in jedes Haus bringen, nicht nur in eine arme Bauernhütte, sondern auch in eine schicke Moskauer Wohnung. Und dann stellen Sie sich vor – sie ist die Braut eines Mörders, wir haben ihn noch nicht gesehen, er ist zu lebenslänglicher Haft verurteilt, und er hat Tuberkulose. Sie lacht: »Das ist meine persönliche Telenovela.« Ich laufe herum und überlege, wie ich ihr beibringen kann, dass wir sie filmen wollen. Vielleicht ist sie ja kamerascheu? Aber sie sagt zu mir: »Ich bin so ein Dummchen, ich erzähle jedem Erstbesten meine Geschichte. Manche weinen, andere verfluchen mich. Wenn Sie wollen, erzähle ich sie auch Ihnen …«
Von der Liebe
Ich hatte noch nicht vor zu heiraten, aber ich träumte natürlich davon. Ich war achtzehn. Er! Er! Wie würde er sein? Einmal hatte ich einen Traum: Ich gehe über die Wiese zum Fluss bei uns hinterm Dorf, und plötzlich taucht vor mir ein hübscher großer Bursche auf. Er nimmt meine Hand und sagt: »Du bist meine Braut. Meine Braut vor Gott.« Als ich aufwachte, dachte ich: Ich darf ihn nicht vergessen … sein Gesicht … Ich behielt es im Gedächtnis wie eine Art Programm. Ein Jahr verging … ein zweites … ich begegnete keinem solchen Mann. Aber Ljoscha warb schon lange um mich, er war Schuster. Er wollte mich heiraten. Ich antwortete ihm ehrlich, dass ich ihn nicht liebte, dass ich jenen Mann liebte, den ich im Traum gesehen hatte. Irgendwann würde ich ihm begegnen, es könne nicht sein, dass ich ihm nie begegnen würde, das sei einfach unmöglich. Ljoscha lachte … auch meine Eltern lachten … Sie überredeten mich zu heiraten, die Liebe würde dann schon kommen.
Was lächeln Sie so? Alle lachen über mich … ich weiß … Wenn du lebst, wie dein Herz fühlt, dann bist du nicht normal. Sagst du die Wahrheit, glaubt dir keiner, aber wenn du lügst, dann ja! Einmal, ich buddelte gerade im Garten, da kam ein Bekannter vorbei, und ich sagte zu ihm: »Hör mal, Petja, ich hab neulich von dir geträumt.« »O nein, bitte nicht! Nur das nicht!« Er ist vor mir weggerannt, als hätte ich die Pest. Ich bin nicht so wie alle … die meisten gehen mir aus dem Weg … Ich will niemandem gefallen, ich interessiere mich nicht für Klamotten und schminke mich nicht. Ich verstehe mich nicht aufs Flirten. Ich kann mich nur unterhalten. Eine Zeitlang wollte ich ins Kloster gehen, aber dann habe ich gelesen, dass man auch außerhalb
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