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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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eines Klosters Nonne sein kann. Sogar zu Hause. Das ist eine bestimmte Lebensweise.
    Ich habe geheiratet. Mein Gott, Aljoscha war so gut, er war so stark, er konnte einen Schürhaken verbiegen. Ich gewann ihn sehr lieb! Ich habe ihm einen Sohn geboren. Nach der Geburt passierte irgendetwas mit mir, vielleicht war es der Schock nach der Entbindung, jedenfalls empfand ich plötzlich Abscheu gegen Männer. Ich hatte ein Kind, wozu brauchte ich noch einen Mann? Ich konnte mich mit ihm unterhalten, für ihn waschen, ihm Essen kochen und das Bett machen, aber mit ihm zusammen sein … mit ihm als Mann … Da schrie ich! Wurde richtig hysterisch! Zwei Jahre lang quälten wir uns, dann verließ ich ihn, ich nahm das Kind und ging weg. Aber ich konnte nirgendwohin. Meine Eltern waren gestorben. Meine Schwester lebt irgendwo auf Kamtschatka … Ich hatte einen Freund, Jura, er liebte mich seit der Schulzeit, hatte mir seine Liebe aber nie gestanden. Ich bin sehr groß, und Jura ist klein, viel kleiner als ich. Er hütete Kühe und las Bücher. Er kannte alle möglichen Geschichten und löste blitzschnell Kreuzworträtsel. Ich ging zu ihm. »Jura, wir beide sind Freunde. Kann ich eine Weile bei dir wohnen? Also, ich will bei dir wohnen, aber rühr mich bitte nicht an. Bitte rühr mich nicht an.« Und er sagte: »Gut.«
    So lebten wir zusammen … Ich dachte bei mir: Er liebt mich, er benimmt sich so wunderbar, er verlangt nichts von mir – warum quäle ich den Mann so? Wir gingen aufs Standesamt und heirateten. Er wollte eine kirchliche Trauung, da gestand ich ihm, dass ich das nicht könne … und erzählte ihm von meinem Traum, davon, dass ich auf meine Liebe wartete … Auch Jura lachte mich aus. »Du bist wie ein Kind. Du glaubst an ein Wunder. Aber niemand wird dich je so lieben wie ich.« Ich gebar ihm zwei Söhne. Fünfzehn Jahre lebten wir zusammen, und fünfzehn Jahre lang gingen wir immer Hand in Hand. Die Leute staunten … Viele leben ohne Liebe, sie kennen die Liebe nur aus dem Fernsehen. Aber was ist der Mensch ohne Liebe? Wie eine Blume ohne Wasser …
    Das ist bei uns so üblich … dass Mädchen und junge Frauen Briefe ins Gefängnis schreiben. Alle meine Freundinnen und auch ich … seit unserer Schulzeit taten wir das … Ich habe Hunderte Briefe geschrieben und Hunderte Antworten erhalten. Und diesmal … Alles war wie immer … Die Postbotin rief: »Lena, ein Gefängnisbrief für dich!« Ich lief ihr entgegen … Ich nahm den Brief: Ein Gefängnisstempel, eine Postfachadresse. Plötzlich fing mein Herz heftig an zu schlagen. Ich hatte nur die Handschrift gesehen, aber sie schien mir so vertraut, dass ich vor Aufregung gar nicht lesen konnte. Ich bin eine Träumerin, aber ich habe auch einen Sinn für die Realität. Das war schließlich nicht der erste Brief dieser Art … Der Text war einfach: Schwester, vielen Dank für die guten Worte … Natürlich bist Du nicht meine Schwester, aber Du bist wie eine Schwester … Ich schrieb noch am selben Abend zurück: Schick mir ein Foto, ich will Dein Gesicht sehen …
    Dann kam die Antwort mit dem Foto. Und ich sah: Das ist er … der Mann, den ich im Traum gesehen hatte … Meine Liebe. Zwanzig Jahre hatte ich auf ihn gewartet. Das konnte ich niemandem erklären … es war wie ein Märchen … Meinem Mann gestand ich gleich: »Meine Liebe hat sich gefunden.« Er weinte. Bettelte und redete auf mich ein: »Wir haben drei Kinder. Wir müssen die Kinder großziehen.« Auch ich weinte. »Jura, ich weiß, dass du ein guter Mensch bist, bei dir sind die Kinder gut aufgehoben.« Die Nachbarn … meine Freundinnen … meine Schwester … Alle verurteilten mich. Plötzlich war ich allein.
    Auf dem Bahnhof kaufte ich mir eine Fahrkarte … Neben mir stand eine Frau, wir kamen ins Gespräch. Sie fragte mich: »Wohin fährst du?« »Zu meinem Mann.« (Er war noch nicht mein Mann, aber ich wusste, dass er es bald sein würde.) »Und wo ist dein Mann?« »Im Gefängnis.« »Was hat er denn getan?« »Er hat einen Menschen getötet.« »A-ah. Muss er lange sitzen?« »Lebenslänglich.« »A-ah … du Arme …« »Sie müssen mich nicht bedauern. Ich liebe ihn.«
    Jeder Mensch muss von jemandem geliebt werden. Wenigstens von einem einzigen Menschen. Liebe, das ist … Ich will Ihnen erzählen, was das ist … Er hat Tuberkulose, im Gefängnis haben alle Tuberkulose. Vom schlechten Essen und aus Gram. Irgendwer sagte mir, Hundefett würde helfen. Ich fragte im Dorf herum und fand

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