Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Natur aus ein Beobachter … Lena ist stolz darauf, dass er jedes Kreuzworträtsel blitzschnell löst … Aber Jura ist klein … Als Kind war er sehr schnell gewachsen, deshalb brachte ihn seine Mutter, als er in die sechste Klasse ging, in eine Klinik in Moskau, und dort bekam er eine Spritze in die Wirbelsäule. Sie stoppte das Wachstum, und er ist noch heute so groß wie in der sechsten Klasse – einen Meter fünfzig. Er ist zwar ein gutaussehender Mann, doch neben seiner Frau sieht er aus wie ein Zwerg. In unserem Film haben wir uns bemüht, das möglichst zu kaschieren, ich habe den Kameramann gebeten, ihn geradezu angefleht: »Lass dir um Gottes willen was einfallen!« Die Zuschauer sollten auf keinen Fall zu dem simplen Schluss kommen: Wegen eines gutaussehenden Supermanns hat sie den Zwerg verlassen. So sind die Frauen eben! Aber Jura … er ist weise, er weiß, dass das Glück viele Farben hat. Er ist mit jeder Bedingung einverstanden, Hauptsache, Lena bleibt bei ihm, wenn nicht als seine Frau, so doch als Freundin. Zu wem läuft sie mit den Briefen aus dem Gefängnis? Zu ihm … Sie lesen die Briefe gemeinsam … Jura blutet das Herz, aber er hört zu … Liebe duldet lange … Liebe kennt keinen Neid … sie hadert nicht mit dem Schicksal und hat nichts Böses im Sinn … Es ist natürlich nicht alles so schön, wie ich es jetzt erzähle … Ihr Leben ist keine rosa Seifenblase … Jura wollte sich erschießen … wollte fortgehen, weit fort … Es gab ganz reale blutige Szenen. Aber Jura liebt sie …
Vom Beobachten
Ich habe sie immer geliebt … Seit der Schulzeit. Irgendwann hat sie geheiratet und ist in die Stadt gezogen. Aber ich liebte sie.
Dann eines Morgens … Meine Mutter und ich saßen am Tisch und tranken Tee. Ich schaute aus dem Fenster und sah Lena kommen, mit dem Kind auf dem Arm. Ich sagte zu meiner Mutter: »Mama, da kommt meine Lena. Ich glaube, sie kommt für immer zu mir.« Von diesem Tag an war ich heiter und glücklich und sogar … schön … Als wir geheiratet hatten, war ich im siebten Himmel vor Glück. Ich küsste meinen Ehering, den ich schon am nächsten Tag verlor. Das war seltsam, denn er hatte so fest am Finger gesessen, aber bei der Arbeit schüttelte ich meinen Handschuh aus, und als ich ihn dann wieder überstreifen wollte, sah ich, dass der Ring weg war – ich suchte danach und konnte ihn nicht finden. Lena dagegen trug ihren Ring lange, und obwohl er recht locker saß, hat sie ihn nie verloren, bis sie ihn dann abnahm …
Wir waren immer zusammen … Es war ein gutes Leben! Wir gingen gern zu zweit zur Quelle, ich trug die Eimer, und sie lief neben mir. »Komm, ich unterhalte dich ein bisschen.« Und dann erzählte sie mir etwas … Mit dem Geld sah es bei uns nicht rosig aus, aber Geld ist Geld, und Glück ist Glück. Sobald es Frühling wurde, standen bei uns immer Blumen auf dem Tisch, erst brachte nur ich welche mit, und als die Kinder größer waren, brachten auch sie welche. Alle liebten Mama. Unsere Mama war immer fröhlich. Sie spielte Klavier – sie hatte eine Musikschule besucht – und sang. Sie dachte sich Märchen aus. Wir hatten auch einmal einen Fernseher geschenkt bekommen. Die Jungs klebten förmlich am Bildschirm, waren kaum davon loszureißen und wurden irgendwie aggressiv und fremd. Da goss sie einfach Wasser in den Fernseher, als wäre er ein Aquarium, und er brannte durch. »Kinder, schaut euch lieber die Blumen und Bäume an. Und redet mit Papa und Mama.« Unsere Kinder waren nicht beleidigt, denn das kam ja von ihrer Mama …
Die Scheidung … Der Richter fragte: »Warum wollen Sie sich scheiden lassen?« »Wir haben verschiedene Vorstellungen vom Leben.« »Trinkt Ihr Mann? Schlägt er Sie?« »Er trinkt nicht, und er schlägt mich nicht. Mein Mann ist überhaupt ein wunderbarer Mensch.« »Warum wollen Sie sich dann scheiden lassen?« »Ich liebe ihn nicht.« »Das ist kein triftiger Grund.« Sie gaben uns ein Jahr Bedenkzeit … damit wir es uns noch einmal überlegten …
Die anderen Männer lachten über mich. Sie rieten mir: Schmeiß sie raus … bring sie in eine psychiatrische Klinik … Was fehlt ihr denn? So was hat doch jeder schon erlebt. Die Wehmut überfällt jeden mal. Du sitzt im Zug, schaust aus dem Fenster, und plötzlich überkommt dich Wehmut. Alles ist wunderschön, eine Augenweide, aber dir laufen die Tränen runter, du kannst nichts dagegen tun. Ja, die russische Wehmut … Selbst wenn ein Mensch anscheinend
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