Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
mich noch heute. Wir hatten endlos Affären. Verliebten uns, trennten uns wieder. Und viele fühlten sich dabei als das Gewissen der Nation und meinten, sie hätten ein Recht, ihr Volk zu belehren. Aber was wussten wir schon vom Volk? Was wir in Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers gelesen hatten und bei unseren Dorfschriftstellern. Bei Rasputin … bei Below … Ich verstand nicht einmal meinen eigenen Vater … Ich schrie ihn an: »Papa, wenn du denen nicht dein Parteibuch hinwirfst, rede ich nicht mehr mit dir.« Mein Vater weinte.
Gorbatschow hatte mehr Macht als ein Zar. Uneingeschränkte Macht. Aber er kam und sagte: »So können wir nicht weiterleben.« Seine berühmten Worte. Und das ganze Land wurde zum Debattierklub. Überall wurde gestritten: zu Hause, auf der Arbeit, in der Metro. Wegen unterschiedlicher Ansichten entzweiten sich Familien, zerstritten sich Kinder mit ihren Eltern. Eine Bekannte von mir hat sich mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter wegen Lenin so entzweit, dass sie die beiden aus der Wohnung rausgeschmissen hat, sie mussten im Winter in der kalten Datscha vor der Stadt leben. Die Theater waren leer, alle saßen zu Hause vorm Fernseher. Da liefen Direktübertragungen vom ersten Kongress der Volksdeputierten der UdSSR . Davor hatten wir diese Abgeordneten gewählt, das war eine Geschichte für sich. Die ersten freien Wahlen! Echte Wahlen! In unserem Kreis waren zwei Kandidaten aufgestellt: ein Parteifunktionär und ein junger Demokrat, ein Universitätsdozent. Ich erinnere mich noch heute an seinen Namen: Jura Malyschew. Inzwischen, das weiß ich zufällig, ist er im Gemüsegeschäft, handelt mit Tomaten und Gurken. Aber damals war er ein Revolutionär! Er hat öffentlich Sachen gesagt – unglaublich! Er bezeichnete die marxistisch-leninistische Literatur als Ladenhüter … als verstaubt … Er forderte die Streichung von Artikel 6 aus der Verfassung – das war der Artikel über die führende Rolle der KPdSU . Ein Eckstein des Marxismus-Leninismus … Ich hörte ihm zu und konnte es nicht glauben. Irrsinn! Wer würde zulassen, dass daran gerührt wurde? Dann würde alles zusammenbrechen … Das waren doch die Stützpfeiler … So sehr waren wir alle schon zu Zombies geworden. Ich habe den Sowjetmenschen jahrelang aus mir herausgepresst, eimerweise. (Sie schweigt.) Unsere Mannschaft … Zwanzig Leute hatten sich als freiwillige Wahlhelfer gemeldet, nach der Arbeit klapperten wir die Wohnungen in unserem Bezirk ab und agitierten. Wir malten Plakate: »Deine Stimme für Malyschew!« Und stellen Sie sich vor – er hat gewonnen! Mit großer Mehrheit. Unser erster Sieg! Anschließend waren wir alle süchtig nach den Direktübertragungen vom Kongress – die Abgeordneten redeten noch offener als wir in unseren Küchen. Oder höchstens zwei Meter entfernt von der Küche. Alle hockten vorm Fernseher wie Junkies. Wir konnten uns nicht losreißen. Da – jetzt geigt Trawkin ihnen die Meinung! Jawohl! Und Boldyrew? Gleich wird er … Ja, toll!
Eine unbeschreibliche Gier nach Zeitungen und Zeitschriften, mehr als nach Büchern. Die Auflagen der »dicken Zeitschriften« 12 stiegen auf mehrere Millionen. Morgens in der Metro Tag für Tag das gleiche Bild: Der ganze Waggon sitzt da und liest. Auch wer steht, liest. Die Leute tauschten die Zeitungen untereinander aus. Leute, die sich überhaupt nicht kannten. Mein Mann und ich hatten zwanzig Blätter abonniert, ein Gehalt ging vollständig dafür drauf. Nach der Arbeit lief ich auf schnellstem Weg nach Hause, zog mich um und las. Vor kurzem ist meine Mutter gestorben, und sie sagte: »Ich sterbe wie eine Ratte im Müll.« Ihre Einzimmerwohnung sah aus wie ein Lesesaal – stapelweise Zeitungen und Zeitschriften – auf den Bücherregalen, im Schrank, auf dem Fußboden, sogar im Flur. Die kostbaren Nowy mir, Snamja, Daugawa 13 … Überall Kartons mit Zeitungsausschnitten. Große Kartons. Ich habe alles auf die Datscha gebracht. Wegwerfen wäre schade, verschenken – an wen? Alles Makulatur heute! Aber zigmal gelesen. Vieles ist unterstrichen – rot, gelb. Mit Rot das Wichtigste. Ich hab bestimmt eine halbe Tonne davon liegen. Die ganze Datscha ist voll damit.
Unser Glaube war aufrichtig … ein naiver Glaube … Wir glaubten, dass jetzt gleich … Dass schon die Busse dastünden, die uns in die Demokratie bringen würden. Wir würden in schönen Häusern wohnen statt in grauen Chruschtschowkas VII , Autobahnen bauen anstelle unserer
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