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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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die militärische Lexik geblieben: »Parteisoldaten«, »Arbeitsfront«, »Ernteschlacht«. Wir fühlten uns nicht mehr als Parteisoldaten, wir waren Parteiangestellte. Clerks. Es gab ein Ritual – ein Symbol für die lichte Zukunft. Im Saal hing ein Lenin-Bild, in der Ecke stand die rote Fahne … Ein Ritual … ein Zeremoniell … Soldaten wurden nicht mehr gebraucht, benötigt wurden Leute, die Beschlüsse umsetzten: »Dawai, dawai«, andernfalls hieß es: »Parteibuch auf den Tisch.« Befohlen – getan. Bericht erstattet. Die Partei war kein militärischer Stab, sondern ein Apparat. Eine Maschine. Eine bürokratische Maschine. Leute aus geisteswissenschaftlichen Berufen wurden selten in den Parteiapparat geholt, die Partei misstraute ihnen seit Lenin, der über die Schicht der Intelligenz geschrieben hat: »… nicht das Gehirn, sondern die Scheiße der Nation …« Solche wie ich waren selten. Philologen. Parteikader wurden aus Ingenieuren und Zootechnikern geschmiedet, aus Leuten, deren Beruf Maschinen, Fleisch und Getreide waren, nicht der Mensch. Kaderschmieden der Partei waren Landwirtschaftsinstitute. Gebraucht wurden Arbeiter- und Bauernkinder. Leute aus dem Volk. Das ging bis zur Lächerlichkeit: Ein Tierarzt zum Beispiel konnte Parteifunktionär werden, ein praktischer Arzt hingegen nicht. Ich habe dort weder Lyriker noch Physiker getroffen. Was noch? Strikte Unterordnung, wie beim Militär … Der Aufstieg war langwierig, von Stufe zu Stufe: Lektor des Kreiskomitees, dann Leiter des Parteikabinetts … Instrukteur … Dritter Sekretär … Zweiter Sekretär … Ich habe alle Stufen in zehn Jahren durchlaufen. Heute, da regieren kleine wissenschaftliche Mitarbeiter und Laborleiter das Land, ein Kolchosvorsitzender oder ein Elektriker wird Präsident. Erst leitet er einen Kolchos, dann gleich das ganze Land! So etwas gibt es nur bei einer Revolution. (Sie redet weiter, vielleicht auch mit sich selbst.) Ich weiß nicht, wie man das nennen soll, was 1991 geschehen ist …
    Revolution oder Konterrevolution?Niemand versucht auch nur zu erklären, in was für einem Land wir leben.Was für eine Idee wir nun haben, außer Wurst. Was wir aufbauen … Wir gehen »vorwärts« zum Sieg des Kapitalismus. Ja? Hundert Jahre lang haben wir ihn beschimpft: als Ungeheuer, als Monster … Und nun sind wir stolz darauf, dass bei uns bald alles genauso sein wird wie überall. Wenn wir werden wie alle anderen, wer interessiert sich dann noch für uns? Das Gottesträgervolk … die Hoffnung der gesamten progressiven Menschheit … (Ironisch.) Vom Kapitalismus haben alle etwa die gleiche Vorstellung wie vor kurzem noch vom Kommunismus. Träume! Sie verurteilen Marx … geben der Idee die Schuld … Eine mörderische Idee! Nein, ich gebe denen die Schuld, die sie umsetzten. Was wir hatten, war Stalinismus, kein Kommunismus. Und jetzt haben wir weder Sozialismus noch Kapitalismus. Weder das östliche noch das westliche Modell. Weder Imperium noch Republik. Wir hängen in der Luft wie … Ich sage lieber nichts … Stalin! Stalin! Immer wieder wird er zu Grabe getragen … immer wieder … Aber er lässt sich einfach nicht begraben. Ich weiß nicht, wie es in Moskau ist, aber bei uns kleben sich manche sein Bild an die Windschutzscheibe im Auto. Im Bus. Die Fernfahrer lieben ihn besonders. In der Uniform des Generalissimus … Das Volk! Das Volk! Aber was ist das Volk? Das Volk sagt selbst, dass aus ihm ebenso ein Knüppel werden kann wie eine Ikone. Wie aus einem Baum … Was man daraus macht, das wird daraus … Unser Leben schwankt zwischen Baracke und Bordell. Im Moment steht das Pendel in der Mitte … Das halbe Land wartet auf einen neuen Stalin. Dass er kommt und für Ordnung sorgt … (Sie schweigt erneut.) Bei uns im Kreiskomitee … da wurde natürlich viel über Stalin geredet. Parteimythen. Die wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Alle erzählten gern, wie es unter dem großen Hausherrn war … Die stalinsche Ordnung sah zum Beispiel so aus: Die Abteilungsleiter des ZK bekamen bei Sitzungen Tee und Brote serviert, die Lektoren nur Tee. Dann wurde der Posten des stellvertretenden Abteilungsleiters eingeführt. Was nun? Sie bekamen Tee ohne Brote, aber auf einer weißen Serviette. Sie waren bereits hervorgehoben … schon näher an den Olymp gerückt, an ihre Helden. Nun mussten sie sich noch ihren Platz an der Futterkrippe sichern … So war es schon unter Cäsar und unter Peter I. Und so wird es immer

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