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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sein … Schauen Sie sich Ihre Demokraten an … Kaum waren sie an der Macht, sind sie losgerannt – wohin? An die Futtertröge. Zum Füllhorn. Die Futtertröge haben schon so manche Revolution kaputtgemacht. Wir haben es ja selber gesehen … Jelzin hat erst gegen die Privilegien gekämpft und sich als Demokraten bezeichnet, und jetzt hat er es gern, wenn man ihn Zar Boris nennt. Ist Taufpate geworden …
    Vor kurzem habe ich Iwan Bunins Verfluchte Tage noch einmal gelesen. (Sie nimmt ein Buch aus dem Regal. Findet ihr Lesezeichen und liest vor.) » Ich erinnere mich an einen alten Arbeiter vor dem Tor des Hauses, in dem früher die ›Odessaer Nachrichten‹ saßen, am ersten Tag der Machtübernahme durch die Bolschewiki. Plötzlich kam aus dem Tor eine Horde Jungen mit Kiepen voller druckfrischer Iswestija und schrie: ›Die Burshuis wurden mit Kontributionen in Höhe von 500 Millionen belegt!‹ Der Arbeiter krächzte, keuchte vor Zorn und Schadenfreude: ›Zu wenig! Zu wenig!‹« Erinnert Sie das nicht an etwas? Mich ja … Es erinnert mich an die Gorbatschow-Jahre … die ersten Unruhen … Als das Volk auf die Straße strömte und Forderungen stellte – es forderte mal Brot, mal Freiheit, mal Wodka und Tabak … Ein Schock! Viele Parteiarbeiter erlitten Schlaganfälle und Herzinfarkte. »Umringt von Feinden«, wie die Partei uns lehrte, hatten wir gelebt wie in einer »belagerten Festung«. Wir wappneten uns für einen Krieg … Unsere größte Angst war ein Atomkrieg, aber mit einem Zusammenbruch hatten wir nicht gerechnet. Nein, damit nicht. In keiner Weise … Wir waren gewöhnt an die Feiertagsdemonstrationen im Mai und im November, an die Marschkolonnen mit Plakaten wie »Die Sache Lenins wird die Jahrhunderte überdauern«, »Die Partei ist unser Steuermann«. Doch dies waren keine geordneten Marschkolonnen, das war eine Elementargewalt. Das war nicht das sowjetische Volk, das war ein anderes Volk, eines, das wir nicht kannten. Auch die Plakate waren andere: »Kommunisten vor Gericht!« »Nieder mit dem Ungeheuer Kommunismus!«. Ich musste sofort an Nowotscherkassk denken … Die Information darüber war damals geheim gewesen, aber wir wussten davon … Dass unter Chruschtschow hungrige Arbeiter auf die Straße gegangen waren … Sie wurden zusammengeschossen. Wer überlebt hatte, kam ins Lager, bis heute wissen die Angehörigen nichts über ihren Verbleib. Wo sie sind. Aber nun … nun herrschte Perestroika … Schießen ging nicht mehr, auch Einsperren nicht. Es musste geredet werden. Aber wer von uns konnte hinausgehen zur Menge und eine Rede halten? Den Dialog beginnen … agitieren … Wir waren Apparatschiks, keine Redner. Ich zum Beispiel hielt oft Vorträge, beschimpfte die Kapitalisten, verteidigte die Neger in Amerika. In meinem Büro stand eine Lenin-Gesamtausgabe … fünfundfünfzig Bände … Aber wer hat die wirklich gelesen? Während des Studiums blätterten wir vor der Prüfung mal darin: »Religion ist Opium fürs Volk« und »jeder Gott ist Leichenschändung« 11 .
    Wir hatten panische Angst … Die Lektoren, Instrukteure und Sekretäre der Kreis- und Gebietskomitees – wir alle hatten Angst, zu den Arbeitern in die Betriebe zu gehen oder zu den Studenten ins Wohnheim. Wir hatten Angst vor Anrufen. Wenn man uns nun nach Sacharow oder Bukowski fragte … Was antworten? Waren sie Feinde der Sowjetmacht, oder waren sie keine Feinde mehr? Wie Rybakows Roman Kinder des Arbat beurteilen oder die Stücke von Schatrow? Es gab keinerlei Anweisung von oben … Früher hast du etwas gesagt bekommen und es gemacht, hast die Linie der Partei in die Praxis umgesetzt. Aber nun: Die Lehrer streikten, forderten höhere Gehälter, ein junger Regisseur probte in einem Betriebsklub ein verbotenes Theaterstück … Mein Gott! In der Kartonagenfabrik schafften die Arbeiter ihren Direktor auf einem Karren zum Werktor hinaus. Krakeelten. Zerschlugen Fensterscheiben. In der Nacht schlangen sie ein Stahlseil um das Lenin-Denkmal und stürzten es. Mit obszönen Gesten. Die Partei war verstört … Ich erinnere mich an eine verstörte Partei … Wir saßen in unseren Büros hinter zugezogenen Vorhängen. Vorm Eingang des Kreiskomitees wachten Tag und Nacht verstärkte Milizposten. Wir hatten Angst vorm Volk, und das Volk hatte aus alter Gewohnheit noch Angst vor uns. Später legte sich die Angst …Tausende Menschen versammelten sich auf dem Platz … An ein Plakat erinnere ich mich: »Es lebe das Jahr 1917!

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