Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Tag zusammen. Vorm Fernseher und am Telefon. Voller Sorge – wer wird da oben gewinnen? Wir warteten. Ich sage Ihnen ehrlich, wir warteten. Das Ganze erinnerte ein wenig an den Sturz Chruschtschows. Wir hatten ja inzwischen eine Menge Memoiren gelesen … Die Gespräche drehten sich natürlich vor allem um eines: Freiheit. Unsere Menschen brauchen die Freiheit wie ein Affe eine Brille. Niemand weiß damit etwas anzufangen. All diese Kioske und Basare … nein, ich mag sie einfach nicht. Ich erzählte, dass ich unseren ehemaligen Kraftfahrer getroffen hätte. Das ist so eine Geschichte … Er war gleich nach dem Militär zum Kreiskomitee gekommen. Durch Beziehungen. Er war sehr zufrieden gewesen. Doch dann begannen die Veränderungen, Kooperativen wurden erlaubt, und er kündigte. Ging ins Business. Er war nicht wiederzuerkennen: kahlgeschoren, Lederjacke, Trainingsanzug. Das war bei denen wohl so eine Art Uniform. Er prahlte, er verdiene an einem Tag mehr als der Erste Kreissekretär in einem ganzen Monat. Mit einem sicheren Geschäft: Jeans. Zusammen mit einem Freund hatte er ein Waschhaus gemietet, und dort stellten sie stone-washed Jeans her. Nach ihrer eigenen Technologie (Not macht erfinderisch): Normale … simple … Jeans wurden in eine Lösung aus Entfärber oder Chlorreiniger gelegt, dazu Ziegelsteinsplitter. Das Ganze wurde ein paar Stunden gekocht – und die Hosen bekamen Streifen, Muster … Abstrakte Kunst! Dann wurden sie getrocknet und mit Montana-Labels versehen. Mir war sofort klar: Wenn sich nichts ändert, dann werden diese Jeans-Händler bald das Kommando übernehmen. Diese NÖP -Leute 15 ! Sie werden alle mit Lebensmitteln versorgen und einkleiden. So lächerlich das klingt … In Kellern werden sie Betriebe einrichten … Genauso ist es ja auch gekommen … Ja! Dieser Junge ist inzwischen Millionär oder Milliardär (eine Million und eine Milliarde sind für mich gleichermaßen phantastisch), Abgeordneter der Staatsduma. Ein Haus auf den Kanaren, eins in London … Zur Zarenzeit lebten Herzen und Ogarjow 16 in London, und heute sie … unsere »neuen Russen« … Die Jeans-, Möbel- und Schokoladenkönige. Die Ölmagnaten.
Um neun Uhr abends rief der Erste uns noch einmal alle zusammen. Der Kreischef des KGB war da. Er informierte uns über die Stimmung der Menschen. Er erklärte, das Volk sei im Großen und Ganzen für das GKT schP . Es sei nicht empört. Gorbatschow hätten alle satt … Alles nur auf Marken, außer Salz … kein Wodka … Die KGB -Leute sind durch die Stadt gelaufen und haben Gespräche mitgeschrieben. Was in den Schlangen so geredet wurde: »Ein Umsturz! Was wird nun aus dem Land?« »Was ist denn bei dir umgestürzt? Dein Bett steht ja wohl noch an seinem Platz.« »Der Wodka bleibt derselbe.« »Die Freiheit ist dahin!« »Klar! Die Freiheit zur Abschaffung der Wurst.« »Manche wollten ja unbedingt Kaugummi kauen und Marlboro rauchen.« »Es war längst Zeit! Das Land steht kurz vor dem Zusammenbruch!« »Dieser Judas Gorbatschow! Er wollte die Heimat für Dollars verkaufen.« »Es wird Blut fließen …« »Ohne Blut geht ‘ s doch bei uns nicht …« »Um das Land zu retten und die Partei, brauchen wir Jeans. Schöne Damenunterwäsche und Wurst, keine Panzer.« »Ein schönes Leben wolltet ihr? Pustekuchen! Das könnt ihr vergessen!« (Sie schweigt.)
Kurz, das Volk wartete … genau wie wir … In der Parteibibliothek gab es am Ende dieses Tages keine Krimis mehr, die waren alle ausgeliehen. (Sie lacht.) Lenin hätten wir lesen sollen statt Krimis. Lenin und Marx. Unsere Apostel.
Ich erinnere mich an die Pressekonferenz des GKT schP … Janajew zitterten die Hände. Er stand da und rechtfertigte sich: »Gorbatschow verdient allen Respekt …« »Er ist mein Freund …« Seine Augen irrten unstet umher … Erschrockene Augen … Mir sank das Herz. Das waren nicht die Leute, die in der Lage wären … auf die wir gewartet hatten … Diese … Pygmäen … ganz gewöhnliche Partei-Apparatschiks … Das Land retten! Den Kommunismus retten! Es waren keine Retter da … Im Fernsehen: Die Moskauer Straßen – ein Menschenmeer. Ein Meer! Mit Zügen und Vorortbahnen strömte das Volk nach Moskau. Jelzin auf einem Panzer. Er verteilt Flugblätter … »Jelzin! Jelzin!«, skandiert die Menge. (Sie nestelt nervös am Saum der Tischdecke.) Die Tischdecke hier … die ist aus China … Die ganze Welt ist mit Waren aus China überschwemmt. China ist ein Land, in dem das GKT
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