Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Revolution!« Ich war erschüttert. Berufsschüler standen da … junge Leute … Küken! Einmal kamen Parlamentäre zu uns ins Kreiskomitee: »Zeigt uns euren Sonderladen! Ihr habt dort alles, und unsere Kinder fallen in der Schule vor Hunger in Ohnmacht.« Sie fanden in unserer Kantine weder Nerze noch schwarzen Kaviar, aber sie glaubten uns trotzdem nicht. »Ihr betrügt das einfache Volk!«
Alles geriet in Bewegung. Ins Wanken. Gorbatschow war schwach. Er lavierte. Er war eigentlich für den Sozialismus … wollte aber auch den Kapitalismus … Ihm war mehr daran gelegen, Europa zu gefallen. Und Amerika. Dort wurde er bejubelt: »Gorbi! Gorbi! Bravo, Gorbi!« Er hat die Perestroika zerredet … (Sie schweigt.)
Der Sozialismus starb vor unseren Augen. Und dann kamen diese stahlharten Jungs …
Anna Iljinitschna
Es ist noch gar nicht lange her … aber es war in einem anderen Zeitalter … In einem anderen Land … Dort ist unsere Naivität geblieben, unsere Romantik. Unsere Gutgläubigkeit. Manch einer mag sich nicht daran erinnern, weil es ihm peinlich ist, wir haben viele Enttäuschungen erlebt. Aber wer sagt, dass sich nichts verändert hat? Früher durfte man keine Bibel über die Grenze bringen. Ist das vergessen? Wenn ich zu meinen Verwandten nach Kaluga fuhr, brachte ich ihnen aus Moskau Mehl und Makkaroni mit. Und sie waren glücklich darüber. Vergessen? Niemand steht mehr Schlange nach Zucker und Seife. Und man braucht keinen Bezugsschein mehr für einen Mantel …
Ich mochte Gorbatschow sofort! Heute wird er verflucht: »Verräter der UdSSR !« »Gorbatschow hat das Land für eine Pizza verkauft!«. Aber ich erinnere mich noch an unser Staunen. Unsere Erschütterung! Endlich hatten wir einen normalen Staatschef. Für den man sich nicht schämen musste! Wir erzählten uns gegenseitig, wie er in Leningrad den ganzen Konvoi angehalten hat und sich unters Volk mischte und wie er bei einer Betriebsbesichtigung ein teures Geschenk ablehnte. Wie er bei dem traditionellen Essen nur ein Glas Tee trank. Er lächelte. Redete frei. War jung. Keiner von uns glaubte, dass die Sowjetmacht je enden, dass es in den Geschäften eines Tages gute Wurst und gute Bücher geben würde und sich nach Import-Büstenhaltern keine kilometerlangen Schlangen mehr bilden würden. Wir hatten uns daran gewöhnt, alles über Beziehungen zu besorgen: ein Abonnement für die »Bibliothek der Weltliteratur«, Schokoladenkonfekt und Trainingsanzüge aus der DDR . Mit dem Fleischer Freundschaft zu schließen, um ein Stück Fleisch zu bekommen. Wir hielten die Sowjetmacht für ewig. Noch für unsere Kinder und Enkel! Doch dann war sie für alle überraschend plötzlich zu Ende. Heute ist klar, dass Gorbatschow das selbst nicht erwartet hatte, er wollte etwas verändern, wusste aber nicht, wie. Niemand war darauf vorbereitet … Niemand! Nicht einmal diejenigen, die die Mauer niederrissen. Ich bin eine einfache Ingenieurin. Keine Heldin, nein … und keine Kommunistin … Durch meinen Mann, er ist Maler, kam ich sehr früh in Boheme-Kreise. Dichter, Maler … Keiner von uns war ein Held, keiner war mutig genug, Dissident zu werden, für seine Überzeugungen im Gefängnis zu landen oder in der Psychiatrie. Wir ballten nur heimlich die Faust.
Wir saßen in unseren Küchen, schimpften auf die Sowjetmacht und erzählten politische Witze. Lasen Samisdat-Literatur. Wenn jemand ein neues Buch beschafft hatte, konnte er damit zu jeder Tages- und Nachtzeit zu seinen Freunden kommen, auch nachts um zwei oder drei, er war ein willkommener Gast. Ich erinnere mich noch gut an dieses Moskauer Nachtleben … ein besonderes Leben … Es hatte seine eigenen Helden … seine eigenen Feiglinge und Verräter … Seine eigene Begeisterung! Einem Uneingeweihten kann man das nicht erklären. Vor allem unsere Begeisterung kann ich nicht erklären. Und noch etwas anderes … Nämlich … Unser nächtliches Leben … Also, das hatte nichts gemein mit unserem Leben am Tag. Kein Stück! Morgens gingen wir alle zur Arbeit und wurden ganz normale Sowjetmenschen. Wie alle anderen. Schufteten für das Regime. Entweder man passte sich an, oder man wurde Hausmeister oder Nachtwächter, anders konnte man nicht man selbst bleiben. Dann kamen wir nach Hause … Und saßen wieder in der Küche, tranken Wodka und hörten die verbotenen Lieder von Wyssozki. Suchten im Radio die von Knistern und Rauschen gestörte Stimme Amerikas . An dieses herrliche Rauschen erinnere ich
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