Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
verrotteten Straßen und alle gute Menschen werden. Nach rationalen Beweisen suchte niemand. Die gab es nicht. Wozu auch? Wir glaubten mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand. Und stimmten im Wahllokal mit dem Herzen ab. Niemand sagte genau, was zu tun sei – Freiheit, das war die Hauptsache. Wenn du in einem Lift eingesperrt bist, hast du nur einen Wunsch: dass die Tür aufgeht. Und bist glücklich, wenn es endlich geschieht. Euphorisch! Du denkst nicht daran, was du nun tun musst … du kannst endlich frei atmen … Und bist schon glücklich! Meine Freundin hat einen Franzosen geheiratet, er arbeitete in Moskau bei der Botschaft. Er kriegte von ihr die ganze Zeit zu hören: »Sieh nur, was wir Russen für eine Energie haben.« »Aber erklär mir doch mal, wofür all diese Energie?«, fragte er sie. Weder sie noch ich konnten es ihm erklären. Ich antwortete nur: »Sie sprudelt eben, diese Energie.« Ich sah um mich herum lebendige Menschen, lebendige Gesichter. Alle waren damals so schön! Woher kamen diese Menschen plötzlich? Gestern waren sie doch noch nicht da gewesen!
Zu Hause lief die ganze Zeit der Fernseher … Jede Stunde schauten wir die Nachrichten. Mein Sohn war gerade geboren, wenn ich mit ihm runter auf den Hof ging, nahm ich immer ein Radio mit. Die Leute nahmen ein Radio mit, wenn sie mit dem Hund rausgingen. Heute sagen wir lachend zu unserem Sohn: »Du hattest schon als Baby den Kopf voller Politik«, aber er interessiert sich nicht dafür. Er hört Musik und lernt Sprachen. Er möchte reisen, die Welt sehen. Er lebt für andere Dinge. Unsere Kinder sind uns nicht ähnlich. Wem ähneln sie eigentlich? Ihrer Zeit und einander. Aber wir damals … Oh! Gleich redet Sobtschak 14 auf dem Kongress … Wir ließen alles stehen und liegen und liefen zum Fernseher. Es gefiel mir, dass Sobtschak ein schickes Sakko trug, aus Cord, glaube ich, und die Krawatte »auf europäische Art« gebunden. Sacharow am Rednerpult … Also konnte der Sozialismus ein »menschliches Gesicht« haben? Ja, da war es … Für mich war es das Gesicht von Akademiemitglied Lichatschow, nicht das von General Jaruzelski.Wenn ich »Gorbatschow« sagte, ergänzte mein Mann immer »Gorbatschow … und Raïssa Maximowna«. Die erste Ehefrau eines Generalsekretärs, für die wir uns nicht zu schämen brauchten. Gute Figur, gut angezogen. Und die beiden liebten sich. Irgendwer brachte uns eine polnische Zeitschrift mit, darin stand, Raïssa sei schick! Waren wir stolz! Endlose Kundgebungen … Die Straßen ertranken in Flugblättern. Kaum war eine Kundgebung zu Ende, fing die nächste an. Die Leute gingen immer wieder hin, jeder hoffte auf eine Offenbarung. Dass die richtigen Leute gleich die richtigen Antworten geben würden. Vor uns lag ein unbekanntes Leben, das faszinierte alle. Das Reich der Freiheit schien unmittelbar vor der Tür zu stehen.
Aber das Leben wurde immer schlechter. Bald gab es außer Büchern nichts mehr zu kaufen. Nur noch Bücher …
Jelena Jurjewna
Am 19. August 1991 … Ich komme ins Kreiskomitee. Gehe durch den Flur und höre: In allen Büros … auf allen Etagen läuft das Radio. Die Sekretärin sagt, der »Erste« wolle mich sehen. Ich zu ihm, der Fernseher läuft mit voller Lautstärke, und er selbst sitzt mit finsterem Gesicht vorm Radio und sucht Swoboda, Deutsche Welle , BBC … Egal, was. Auf seinem Tisch liegt eine Liste der Mitglieder des GKT schP . »Warennikow ist der Einzige«, sagt er zu mir, »der einigermaßen Respekt einflößt. Immerhin ein kampferprobter General. War in Afghanistan.« Der Zweite Sekretär kommt herein … der Leiter der Organisationsabteilung … Wir fangen an zu reden. »Schrecklich! Es wird Blut fließen. Wir werden in Blut ertrinken.« »Nicht alle, nur die, die es verdienen.« »Es ist längst an der Zeit, die Sowjetunion zu retten.« »Es wird Berge von Toten geben.« »Nun ist es aus mit Gorbatschow. Endlich kommen vernünftige Männer an die Macht, Generäle. Dann ist Schluss mit dem Chaos.« Der Erste erklärte, er wolle die übliche morgendliche Plansitzung ausfallen lassen – was sollte er auch sagen? Es gab keinerlei Anweisungen. In unserem Beisein rief er bei der Miliz an: »Habt ihr irgendetwas gehört?« »Nein, nichts.« Wir sprachen noch eine Weile über Gorbatschow – ob er nun krank sei oder verhaftet. Die meisten neigten zu einer dritten Version – dass er sich mit seiner Familie nach Amerika abgesetzt habe … Wohin sonst?
So saßen wir den ganzen
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