Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
schP gesiegt hat. Und wo stehen wir? Ein Dritte-Welt-Land. Wo sind diejenigen, die damals »Jelzin! Jelzin« geschrien haben? Sie dachten, sie würden bald leben wie in Amerika oder in Deutschland, stattdessen leben wir nun wie in Kolumbien. Wir haben verloren … das Land haben wir verloren … Dabei zählten wir Kommunisten damals fünfzehn Millionen! Die Partei hätte … Sie wurde verraten … Unter den fünfzehn Millionen fand sich keine einzige Führungspersönlichkeit. Keine einzige! Auf der anderen Seite aber gab es eine. Ja, die gab es – Jelzin! So dumm haben wir alles verloren! Das halbe Land hat darauf gewartet, dass wir gewinnen … Das Land war kein Ganzes mehr. Es war schon gespalten.
Leute, die sich Kommunisten genannt hatten, gestanden plötzlich, dass sie den Kommunismus von klein auf gehasst hätten. Sie gaben ihr Parteibuch zurück … Manche legten ihr Parteibuch wortlos auf den Tisch, andere knallten die Tür hinter sich zu. Manche warfen es nachts vor das Gebäude des Kreiskomitees … Wie Diebe. Trennt euch wenigstens ehrlich vom Kommunismus! Aber nein – heimlich! Morgens sammelten die Hausmeister die Dokumente auf dem Hof ein – Parteibücher, Komsomolausweise – und brachten sie uns. In Tüten, in großen Plastiksäcken … Was tun damit? Wo abgeben? Es gab keine Weisungen. Von oben kein einziges Zeichen. Totenstille. (Sie denkt nach.) Das war so eine Zeit … die Menschen fingen an, alles zu verändern. Absolut alles. Radikal. Manche gingen weg – wechselten die Heimat. Andere wechselten die Überzeugungen und Prinzipien. Die Nächsten die Sachen in der Wohnung, sämtliche Sachen wurden ausgewechselt. Das Alte … Sowjetische wurde weggeworfen. Alles wurde neu gekauft, Importware … Die Tschelnoki schafften sofort alles herbei: Wasserkessel, Telefone, Möbel … Kühlschränke … Plötzlich war das alles massenweise vorhanden. »Ich habe eine Waschmaschine von Bosch.« »Ich hab mir einen Siemens-Fernseher gekauft.« Dauernd hörte man: »Panasonic«, »Sony«, »Philips« … Ich traf eine Nachbarin. »Es ist ja eigentlich eine Schande, sich über eine deutsche Kaffeemühle zu freuen … Aber ich bin glücklich!« Dabei hatte sie gerade noch … gerade noch hatte sie die ganze Nacht nach einem Band Achmatowa angestanden, und nun war sie verrückt nach einer Kaffeemühle. Nach einer Nichtigkeit … Und von den Parteibüchern trennten sie sich wie von etwas Unnützem. Es war schwer zu glauben … Aber binnen weniger Tage veränderte sich alles. Das zaristische Russland, so liest man es in Memoiren, war binnen drei Tagen weg, und genauso der Kommunismus. Binnen weniger Tage. Das wollte mir nicht in den Kopf … Es gab allerdings auch andere, Leute, die ihr rotes Büchlein gut versteckten, es für alle Fälle aufbewahrten. Vor kurzem hat man in einer Familie für mich eine Lenin-Büste vom Hängeboden geholt. Sie heben sie auf … vielleicht wird sie noch einmal gebraucht … Wenn die Kommunisten zurückkommen, werden sie als Erste eine rote Schleife tragen. (Sie schweigt lange.) Auf meinem Tisch lagen Hunderte Austrittserklärungen … Das alles wurde bald darauf eingesammelt und auf den Müll gebracht. Zum Verrotten auf der Müllkippe. (Sie kramt in mehreren Mappen auf dem Tisch.) Ein paar Briefe habe ich aufgehoben … Eines Tages wird man sie haben wollen, für ein Museum. Wird danach suchen.
Sie liest vor.
» Ich war eine treue Komsomolzin … bin ehrlichen Herzens in die Partei eingetreten. Nun muss ich sagen, dass die Partei keinerlei Macht mehr über mich hat …«
»Die Zeit hat mich in die Irre geführt … Ich habe an die Große Oktoberrevolution geglaubt. Nachdem ich Solschenizyn gelesen hatte, begriff ich, dass die ›schönen Ideale des Kommunismus‹ voller Blut sind. Das ist Betrug …«
»Mich hat die Angst gezwungen, in die Partei einzutreten … Die leninschen Bolschewiki haben meinen Großvater erschossen, die stalinschen Kommunisten haben in den mordwinischen Lagern meine Eltern vernichtet …«
»In meinem Namen und im Namen meines verstorbenen Mannes erkläre ich meinen Austritt aus der Partei …«
Das musste man erst einmal aushalten … nicht krepieren vor Angst. Im Kreiskomitee bildeten sich Schlangen wie in den Geschäften. Schlangen von Leuten, die ihr Parteibuch zurückgeben wollten. Eine einfache Frau kam zu mir. Eine Melkerin. Sie weinte … »Was soll ich mit meinem Parteibuch machen? In der Zeitung steht, man soll es wegwerfen.«
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