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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Sie rechtfertigte sich, sie habe drei Kinder und sie habe Angst um sie. Irgendwer verbreitete Gerüchte, dass die Kommunisten vor Gericht gestellt werden sollten. In die Verbannung geschickt. In Sibirien würden schon die alten Baracken repariert … und die Miliz habe Handschellen geliefert bekommen … Irgendwer wollte gesehen haben, wie sie von geschlossenen LKW abgeladen wurden. Schlimme Dinge, ja! Aber ich erinnere mich auch an echte Kommunisten. Die der Idee treu waren. An einen jungen Lehrer … Er war kurz vor dem Putsch in die Partei aufgenommen worden, hatte aber noch kein Parteibuch, und er bat: »Man wird Sie ja bald schließen. Stellen Sie mir bitte rasch mein Parteibuch aus, sonst bekomme ich nie mehr eins.« In dieser Situation offenbarten sich die Menschen ganz unverstellt. Ein Frontsoldat kam zu uns … Die ganze Brust voller Orden. Ein richtiger Ikonostas! Er gab sein Parteibuch ab, das er an der Front bekommen hatte, mit den Worten: »Ich will nicht in einer Partei sein mit diesem Verräter Gorbatschow!« Ja, ganz unverstellt … Ganz unverstellt offenbarten sich die Menschen … Fremde wie Bekannte. Sogar Verwandte. War man sich früher begegnet, hatte es geheißen: »Ach, Jelena Jurjewna!« »Wie geht es Ihnen, Jelena Jurjewna?« Und auf einmal – wenn sie mich sahen, wechselten sie auf die andere Straßenseite, um mich nicht grüßen zu müssen. Der Direktor der besten Schule in unserem Kreis … Kurz vor all diesen Ereignissen hatten wir in seiner Schule eine wissenschaftliche Parteikonferenz zu Breschnews Büchern Kleines Land und Wiedergeburt durchgeführt. Er hatte einen glänzenden Vortrag gehalten über die führende Rolle der Kommunistischen Partei während des Großen Vaterländischen Krieges … und des Genossen Breschnew persönlich … Ich hatte ihm eine Urkunde des Kreiskomitees überreicht. Ein treuer Kommunist! Ein Leninist! Mein Gott! Keinen Monat später …. Da begegnete er mir auf der Straße und beschimpfte mich: »Eure Zeit ist vorbei! Ihr werdet euch für alles verantworten! Vor allem für Stalin!« Mir blieb die Luft weg, so verletzt war ich. Das sagte er zu mir! Zu mir? Zu mir, deren Vater im Lager gesessen hat … (Sie braucht einige Minuten, um sich zu beruhigen.) Ich habe Stalin nie gemocht. Mein Vater hat ihm verziehen, ich nicht. Ich habe nicht verziehen … (Sie schweigt.) Mit der Rehabilitierung der »Politischen« war gleich nach dem 20. Parteitag begonnen worden. Nach Chruschtschows Rede …
    Unter Gorbatschow … Ich wurde zur Vorsitzenden der Kreiskommission für die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen ernannt. Ich weiß, dass man das erst anderen angeboten hatte: unserem Staatsanwalt und dem Zweiten Sekretär des Kreiskomitees. Sie hatten abgelehnt. Warum? Vielleicht aus Angst. Bei uns hat man ja noch heute Angst vor allem, was mit dem KGB zu tun hat. Doch ich zögerte keinen Augenblick – ja, ich bin einverstanden. Mein Vater hatte gelitten. Wovor sollte ich Angst haben? Am ersten Tag wurde ich in einen Kellerraum geführt. Sie zeigten mir alles …. Zehntausende Akten … Manche enthielten nur zwei Blätter, andere füllten einen dicken Band. Genauso, wie es 1937 einen Plan gegeben hatte … eine Quote … zur »Entlarvung und Vernichtung der Volksfeinde«, genauso gab es in den achtziger Jahren in jedem Kreis und jedem Gebiet Vorgaben zur Rehabilitierung. Der Plan musste erfüllt und übererfüllt werden. Ganz im stalinschen Stil: Sitzungen, Schulungen, Rügen … Dawai, dawai! (Sie schüttelt den Kopf.) Nächtelang saß ich und las, durchforstete Aktenbände. Ganz ehrlich … ich sage Ihnen ehrlich … Mir standen die Haare zu Berge … Der Bruder denunzierte den Bruder, der Nachbar den Nachbarn … Weil sie Streit hatten wegen eines Gemüsegartens, wegen eines Zimmers in der Gemeinschaftswohnung. Jemand hatte auf einer Hochzeitsfeier einen Spottvers gesungen: »Dank Stalin, dem großen weisen Mann, haben alle Gummischuhe an.« Das genügte. Einerseits hatte der Staat kein Erbarmen mit den Menschen, aber andererseits hatten die Menschen auch kein Erbarmen miteinander. Die Menschen waren bereit …
    Eine ganz normale Gemeinschaftswohnung … Fünf Familien, siebenundzwanzig Personen. Eine Küche und eine Toilette. Zwei Frauen waren befreundet – die eine hatte eine Tochter, fünf Jahre alt, die andere lebte allein. In Gemeinschaftswohnungen bespitzelten die Leute einander natürlich. Belauschten einander. Wer ein Zimmer von zehn

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