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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Quadratmetern besaß, beneidete diejenigen, die fünfundzwanzig Quadratmeter bewohnten. So ist das Leben nun mal … Eines Nachts fährt ein »schwarzer Rabe« vor … Die Frau mit der kleinen Tochter wird verhaftet. Bevor sie abgeführt wird, ruft sie ihrer Freundin noch zu: »Wenn ich nicht wiederkommen sollte, nimm meine Kleine zu dir. Gib sie nicht ins Heim.« Die Frau nahm das Mädchen zu sich. Und bekam auch das andere Zimmer … Das Mädchen nannte sie Mama, »Mama Anja«. Es vergingen siebzehn Jahre … Nach siebzehn Jahren kam die leibliche Mutter zurück. Sie küsste ihrer Freundin Hände und Füße. Ein Märchen wäre an dieser Stelle zu Ende, aber im Leben endet es anders. Ohne Happy End. Als man unter Gorbatschow die Archive öffnete, wurde die ehemalige Gefangene gefragt: »Wollen Sie Ihre Akte einsehen?« »Ja.« Sie bekam ihre Akte, schlug sie auf … Ganz vorn lag eine Denunziation … Sie kannte die Handschrift … Die Nachbarin … »Mama Anja« hatte sie denunziert … Verstehen Sie das? Ich nicht. Und jene Frau verstand es auch nicht. Sie ging nach Hause und erhängte sich. (Sie schweigt.) Ich bin Atheistin. Ich habe viele Fragen an Gott … Ich erinnere mich … Ich muss immer an Vaters Worte denken: »Das Lager kann man überleben, aber die Menschen nicht.« Und: »Stirb du heute, ich sterbe morgen – diese Worte habe ich nicht im Lager zum ersten Mal gehört, sondern von unserem Nachbarn. Von Karpuscha …« Karpuscha lag sein Leben lang mit meinen Eltern im Streit wegen der Hühner, die über seine Beete liefen. Er rannte mit einem Jagdgewehr vor unseren Fenstern herum … (Sie schweigt.)
    Am 23. August … Die Mitglieder des GKTs chP wurden verhaftet. Innenminister Pugo erschoss sich … vorher hatte er seine Frau erschossen … Die Leute freuten sich: »Pugo hat sich erschossen!« Marschall Achromejew erhängte sich in seinem Büro im Kreml. Es gab noch einige merkwürdige Todesfälle … Der Büroleiter des ZK , Nikolai Krutschin, stürzte aus einem Fenster im vierten Stock … Mord oder Selbstmord? Darüber wird bis heute gerätselt … (Sie schweigt.) Wie weiterleben? Wie auf die Straße gehen? Einfach auf die Straße gehen und jemandem begegnen. Ich habe damals … Ich lebte schon seit mehreren Jahren allein. Meine Tochter hatte einen Offizier geheiratet und lebte in Wladiwostok. Mein Mann war an Krebs gestorben. Abends kam ich in eine leere Wohnung. Ich bin kein schwacher Mensch … Aber die Gedanken … schlimme Gedanken … sie kamen mir … Das sage ich ehrlich … Ja, sie waren da … (Sie schweigt.) Eine Zeitlang gingen wir noch zur Arbeit ins Kreiskomitee. Schlossen uns dort in unseren Büros ein. Schauten die Nachrichten im Fernsehen. Warteten. Hofften auf irgendetwas. Wo war unsere Partei? Unsere unbesiegbare leninsche Partei! Die Welt war zusammengebrochen … Aus einem Kolchos kam ein Anruf: Männer mit Sensen, mit Mistgabeln und Jagdgewehren hatten sich vor der Kolchosverwaltung versammelt, um die Sowjetmacht zu verteidigen. Der Erste befahl: »Schickt die Leute nach Hause.« Wir waren verschreckt … wir alle waren verschreckt … Aber diese Leute waren entschlossen. Ich kenne mehrere solche Fälle. Wir aber waren verschreckt …
    Und dann … dieser Tag … Ein Anruf aus der Kreisverwaltung: »Wir müssen eure Büros versiegeln. Ihr habt zwei Stunden, um eure Sachen zu packen.« (Sie kann vor Erregung nicht weitersprechen.) Zwei Stunden … Eine Kommission versiegelte die Büros … Demokraten! Ein Schlosser, ein junger Journalist, eine Mutter von fünf Kindern … Ich kannte sie von den Kundgebungen her. Von ihren Briefen ans Kreiskomitee … an unsere Zeitung … Sie lebte mit ihrer großen Familie in einer Baracke. Sie meldete sich überall zu Wort und verlangte eine Wohnung. Verfluchte die Kommunisten. Ihr Gesicht hat sich mir eingeprägt … In diesem Moment triumphierte sie … Als sie zum Ersten kamen, warf er einen Stuhl nach ihnen. In meinem Büro ging eine Frau aus der Kommission zum Fenster und zerriss demonstrativ die Gardine. Damit ich sie nicht mit nach Hause nahm, oder warum? Mein Gott! Ich musste meine Tasche öffnen … Einige Jahre später traf ich die kinderreiche Mutter auf der Straße. Ich weiß sogar noch ihren Namen: Galina Awdej. Ich fragte sie: »Haben Sie eine Wohnung bekommen?« Sie erhob drohend die Faust gegen das Gebäude der Gebietsregierung. »Auch diese Schweine haben mich betrogen!« Und dann … Was war dann? Als wir das Gebäude

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