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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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verließen, erwartete uns eine Volksmenge. »Stellt die Kommunisten vor Gericht! Jetzt kommen sie nach Sibirien!« »Man sollte mit Maschinengewehren auf alle Fenster schießen.« Ich drehte mich um – hinter mir standen zwei angetrunkene Männer, von ihnen kam das mit dem Maschinengewehr. Ich sagte: »Aber dass ihr Bescheid wisst, ich schieße zurück.« Ein Milizionär stand dabei und tat, als hätte er nichts gehört. Ein Milizionär, den ich kannte.
    Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl … als hörte ich es hinter mir flüstern: Bu-bu-bu … Nicht nur mir ging es so … Zur Tochter eines unserer Instrukteure sagten zwei Mädchen aus ihrer Klasse: »Du bist nicht mehr unsere Freundin. Dein Papa hat im Kreiskomitee der Partei gearbeitet.« »Mein Papa ist gut.« »Ein guter Papa kann nicht da gearbeitet haben. Wir waren gestern auf einer Kundgebung …« Fünfte Klasse … Kinder … Und schon kleine Gavroches 17 , bereit, die Patronen zu reichen. Der Erste erlitt einen Herzinfarkt. Er starb im Krankenwagen, auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich dachte, es würde wie früher viele Kränze geben, ein Orchester, aber nein – nichts und niemand. Nur ein paar Leute begleiteten den Sarg. Seine Frau hatte einen Grabstein in Auftrag gegeben, da sollten Hammer und Sichel eingemeißelt werden und Zeilen der sowjetischen Hymne: »… vom Willen der Völker gegründet, die einig und mächtige Sowjetunion …« Sie wurde ausgelacht. Ich hörte die ganze Zeit dieses Flüstern: »Bu-bu-bu …« Ich dachte, ich würde verrückt werden … Eine vollkommen fremde Frau in einem Laden: »Die Kommunisten haben das Land in die Scheiße geritten!« Mir ins Gesicht.
    Was mich gerettet hat? Anrufe haben mich gerettet … Von einer Freundin: »Wenn sie dich nach Sibirien schicken, hab keine Angst. Es ist schön da.« (Sie lacht.) Sie war mit einer Reisegruppe dort gewesen. Es hat ihr gefallen. Ein Anruf von meiner Cousine aus Kiew: »Komm zu uns. Ich geb dir einen Schlüssel. Du kannst dich auf unserer Datscha verstecken. Da findet dich keiner.« »Ich bin keine Verbrecherin.« Meine Eltern riefen jeden Tag an: »Was machst du gerade?« »Gurken einlegen.« Bis zum frühen Morgen habe ich Gläser ausgekocht. Gurken eingelegt. Ich habe keine Zeitungen gelesen und nicht ferngesehen. Ich las Krimis, sobald ich einen ausgelesen hatte, griff ich zum nächsten. Fernsehen machte mir Angst. Die Zeitungen auch.
    Anschließend fand ich lange keine Arbeit … Alle meinten, wir hätten das Geld der Partei unter uns aufgeteilt und jeder von uns besäße ein Stück Erdölleitung oder wenigstens eine kleine Tankstelle. Ich besitze keine Tankstelle, auch keinen Laden oder Kiosk. Kioske … »Komki« nennt man die heute. »Komki« VIII , »Tschelnoki« … Die große russische Sprache ist nicht wiederzuerkennen: Voucher, Devisenkorridor … IWF -Tranche … Wir sprechen eine fremde Sprache. Ich bin in den Schuldienst zurückgekehrt. Nun lese ich mit meinen Schülern wieder meinen geliebten Tolstoi und Tschechow. Die anderen? Das Schicksal meiner Genossen ist unterschiedlich verlaufen … Einer hat Selbstmord begangen … Die Leiterin des Parteikabinetts hatte einen Nervenzusammenbruch, lag lange im Krankenhaus. Manche sind ins Business eingestiegen … Unser zweiter Sekretär leitet ein Kino. Und einer der Instrukteure ist heute Priester. Ich habe mich mit ihm getroffen. Mich mit ihm unterhalten. Er lebt ein zweites Leben. Ich habe ihn beneidet. (Sie schweigt.) Ich habe ihn beneidet und mich an etwas erinnert … An eine Kunstausstellung, in der ich mal war … Auf einem Bild, das weiß ich noch, gab es ganz viel Licht – und eine Frau auf einer Brücke. Sie schaut in die Ferne … und da ist ganz viel Licht … Ich mochte mich nicht trennen von diesem Bild. Immer wieder kehrte ich dorthin zurück. Es zog mich an. Auch ich hätte ein anderes Leben haben können. Ich weiß nur nicht, was für eines …
     
    Anna Iljinitschna
    Ich erwachte von einem Dröhnen … Ich öffnete das Fenster … Panzer! In Moskau! Durch die Hauptstadt fuhren Panzer und Schützenpanzerwagen. Das Radio! Schnell das Radio an! Im Radio lief eine Ansprache an das sowjetische Volk: »… unsere Heimat schwebt in tödlicher Gefahr … Das Land gerät in einen Strudel von Gewalt und Gesetzlosigkeit … Wir werden die Straßen von diesen kriminellen Elementen säubern … Wir werden diese wirre Zeit beenden.« Es war nicht recht klar, ob Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen

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