Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
Leben war er nicht gedacht. Und dann … Meinen Sie, wir hätten nicht massenweise moderne Frauenstiefel und schöne Büstenhalter produzieren können? Oder Plastik-Videogeräte? Jederzeit. Aber wir hatten andere Ziele …Und das Volk? (Pause.) Das Volk wünscht sich einfache Dinge. Zuckerbrot im Überfluss. Und – einen Zaren! Gorbatschow wollte kein Zar sein. Er hat sich geweigert. Aber Jelzin … Als er 1993 spürte, dass sein Präsidentenstuhl ins Wanken geriet, gab er geistesgegenwärtig den Befehl, das Parlament zu beschießen. Die Kommunisten hatten sich 1991 gescheut zu schießen … Gorbatschow hat die Macht ohne Blutvergießen abgegeben … Jelzin dagegen ließ aus Panzern schießen. Ein Blutbad anrichten. Ja … so … Und er wurde unterstützt. Unser Land ist ein Zarenland, von der Mentalität her, im Unterbewusstsein. Von den Genen her. Alle brauchen einen Zaren. An Iwan den Schrecklichen, der die russischen Städte mit Blut überschwemmt und den Livländischen Krieg verloren hat, erinnert man sich voller Angst und Begeisterung. Genau wie an Peter I. und an Stalin. Doch Alexander II . , der Befreier 7 … der Zar, der Russland die Freiheit geschenkt hat … wurde ermordet … Bei den Tschechen ist ein Václav Havel möglich, wir aber brauchen keinen Sacharow, wir brauchen einen Zaren. Ein Väterchen Zar! Ob Generalsekretär … oder Präsident – bei uns ist das immer ein Zar … (Lange Pause.)
     
    Er zeigt mir sein Notizbuch mit Zitaten aus den Werken der marxistischen Klassiker. Ich schreibe mir ein Leninzitat ab: »Ich bin bereit, in einem Schweinestall zu leben – wenn darin nur die Sowjetmacht herrscht.« Ich bekenne, dass auch ich Lenin nicht gelesen habe.
     
    … nun, jetzt mal zu einer anderen … einer anderen Seite … Zur Entspannung … Wir sind ja hier sozusagen unter uns, im engsten Kreis. Im Kreml gab es einen eigenen Koch. Alle Politbüro-Mitglieder bestellten bei ihm Hering, Speck, schwarzen Kaviar, Gorbatschow aber meist Kascha. Salat. Er bat, ihm keinen schwarzen Kaviar zu servieren: »Kaviar ist gut zum Wodka, aber ich trinke nicht.« Er und Raïssa Maximowna hielten ab und zu Diät, legten Fastentage ein. Er war anders als alle früheren Generalsekretäre. Ganz unsowjetisch liebte er seine Frau zärtlich. Sie gingen Hand in Hand spazieren. Jelzin dagegen, das weiß ich, verlangt oft am Morgen schon ein Gläschen und eine Salzgurke. Das ist russisch. (Pause.) Der Kreml ist ein Terrarium. Ich will Ihnen etwas erzählen … Aber nennen Sie nicht meinen Namen … Ich bin seit kurzem in Pension. Jelzin hat seine eigene Mannschaft zusammengeholt, die »Gorbatschowzy« wurden hinweggefegt. So oder so waren sie alle bald raus. Darum sitze ich auch hier mit Ihnen, als Pensionär, sonst würde ich schweigen wie ein Partisan. Ich habe keine Angst vor dem Diktiergerät, es stört mich nicht. Ich bin es gewohnt, wissen Sie. Wir wurden durchleuchtet wie mit Röntgenstrahlen … (Pause.) Scheinbar eine Kleinigkeit, aber sie zeigt den Charakter dieses Menschen … Achromejew zog in den Kreml und verzichtete sofort auf die Erhöhung seines Gehalts auf ein Mehrfaches. Er bat darum, es bei seinem alten Gehalt zu belassen. »Das genügt mir.« Wer von uns ist ein Don Quichotte? Und wer, frage ich Sie, hält Don Quichotte für normal? Als das ZK der KPdSU und die Regierung eine Verordnung erließen (damals begann der Kampf gegen die Privilegien), ausländische Geschenke im Wert von über fünfhundert Dollar seien der Staatskasse zu übergeben, war er der Erste und einer der wenigen, die sich daran hielten. Die Kremlsitten … Dienen, katzbuckeln, wissen, wen man denunzieren kann und über wessen Witze man rechtzeitig kichern muss. Wen man richtig grüßen und wem man nur kurz zunicken muss. Alles vorausberechnen … Wo haben Sie ein Büro bekommen? In der Nähe des Präsidenten – auf derselben Etage? Wenn nicht – sind Sie kein Mensch. Nur ein kleines Licht. Was für Telefone stehen bei Ihnen? Haben Sie eine »Wertuschka« XVIII ? Und einen Apparat mit der Aufschrift »Präsident« für die direkte Verbindung zu ihm »persönlich«? Bekommen Sie einen Wagen aus dem Wagenpark zur besonderen Verfügung? …
    … ich lese gerade Trotzki, Mein Leben . Darin beschreibt er sehr gut das Innenleben der Revolution … Heute berufen sich ja alle auf Bucharin. Seine Losung: »Bereichert euch, häuft Kapital an« – passt allen in den Kram. Haargenau. »Buchartschik« (wie Stalin ihn nannte) hat

Weitere Kostenlose Bücher