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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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geholt wurden. Von den Kremltürmen. Welche Gefühle mag er dabei gehabt haben? Als Kommunist … als Frontsoldat … Sein ganzes Leben hatte seinen Sinn verloren … Ich kann ihn mir in unserem heutigen Leben nicht vorstellen. Im nicht sowjetischen Leben. In einem Präsidium, unter der russischen Trikolore anstelle der roten Fahne. Nicht unter einem Leninbild, sondern unterm Zarenadler. Er passt einfach nicht in das neue Interieur. Er war ein sowjetischer Marschall … verstehen Sie … Sowjetisch!! Nur das, nichts anderes. Nur das …
    Im Kreml fühlte er sich unbehaglich. Eine »weiße Krähe«, ein »Kommisskopf« … Er hat sich dort nie eingelebt, er hat immer gesagt: »Wahre uneigennützige Kameradschaft gibt es nur bei der Truppe.« Sein ganzes … ja, sein ganzes Leben hat er bei der Armee verbracht. Mit Militärs. Ein halbes Jahrhundert. Mit siebzehn hat er die Uniform angezogen. Ein gewaltiger Zeitraum! Ein ganzes Leben! In das Büro im Kreml zog er nach seinem Rücktritt vom Posten des Generalstabschefs. Das Gesuch hatte er selbst geschrieben. Einerseits fand er, man müsse rechtzeitig abtreten (wir hatten genug Särge gesehen), den Weg für die Jungen freimachen, andererseits war er in Konflikt mit Gorbatschow geraten. Der mochte die Armee nicht, genau wie Chruschtschow, der die Generäle und überhaupt alle Militärs nie anders nannte als Schmarotzer. Unser Land war durch und durch militärisch, rund siebzig Prozent der Wirtschaft bediente die Bedürfnisse der Armee. Genau wie unsere besten Köpfe … Physiker, Mathematiker … Alle arbeiteten für Panzer und Bomben. Auch die Ideologie war militärisch. Gorbatschow aber war ein zutiefst unmilitärischer Mensch. Die vorigen Generalsekretäre hatten den Krieg hinter sich, er dagegen die philosophische Fakultät der Moskauer Universität. »Haben Sie vor, Krieg zu führen?«, fragte er die Militärs. »Ich habe das nicht vor. Aber es gibt bei uns allein in Moskau mehr Generäle und Admiräle als im gesamten Rest der Welt.« So hatte zuvor noch nie jemand mit unseren Militärs gesprochen, sie waren immer die wichtigsten Leute gewesen. Nicht der Wirtschaftsminister erstattete als Erster Bericht vor dem Politbüro, sondern der Verteidigungsminister: wie viele Waffen produziert worden waren, nicht, wie viele Videogeräte. Darum kostete ein Videogerät bei uns auch so viel wie eine Wohnung. Und nun wurde auf einmal alles anders … Und natürlich rebellierten die Militärs dagegen. Wir brauchen eine große und starke Armee, bei unserem gewaltigen Territorium und unseren Grenzen mit der halben Welt. Man rechnet mit uns, solange wir stark sind, doch wenn wir plötzlich schwach werden, dann wird kein »neues Denken« irgendwen von irgendetwas überzeugen. Achromejew persönlich erstattete ihm mehrfach Bericht … Das war die wesentliche Kontroverse zwischen ihnen … Von kleinen Konflikten, von so etwas will ich hier nicht reden. Aus Gorbatschows Reden verschwanden einige jedem Sowjetmenschen vertraute Formulierungen: »die Machenschaften des internationalen Imperialismus«, »Gegenschlag«, »transatlantische Geschäftemacher« … Das alles hat er gestrichen. Für ihn gab es nur »Gegner der Glasnost« und »Gegner der Perestroika«. Bei sich im Büro fluchte er (darin war er ein Meister!) und nannte sie »alte Säcke«. (Pause.) »Dilettant«, »russischer Gandhi« … Das war noch nicht das Beleidigendste, was in den Kremlfluren über ihn gesagt wurde. Die »alten Urgesteine« waren natürlich schockiert, sie ahnten Böses: Er wird selber untergehen und alle mitreißen. Für Amerika waren wir das »Reich des Bösen«, man drohte uns mit einem Kreuzzug … mit einem »Krieg der Sterne« … Aber unser Oberbefehlshaber redete plötzlich wie ein buddhistischer Mönch: »die Welt als gemeinsames Haus«, »Veränderungen ohne Gewalt und Blutvergießen«, »Krieg ist nicht mehr die Fortsetzung der Politik« und so weiter. Achromejew kämpfte lange, aber er war müde … Die erste Zeit dachte er, dass nach oben falsch berichtet würde, gelogen … dann begriff er: Es war Verrat … Er reichte sein Gesuch ein. Gorbatschow nahm seinen Rücktritt an, behielt ihn aber in seiner Nähe. Ernannte ihn zu seinem militärischen Berater.
    … es war gefährlich, an dieser Konstruktion zu rütteln. Der stalinschen … der sowjetischen … nennen Sie es, wie Sie wollen … Unser Staat hat immer im Zustand der Mobilmachung existiert. Von den ersten Tagen an. Für das friedliche

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