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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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das alles erinnere ich mich … Plötzlich mochte man uns! Verschwunden war die Angst vorm KGB , und vor allem – der atomare Wahnsinn sollte beendet werden … Und dafür war die Welt uns dankbar. Jahrzehntelang hatten alle Angst vor einem Atomkrieg gehabt, sogar die Kinder. Alle waren daran gewöhnt, einander aus der Schützengrabenperspektive zu betrachten. Durchs Zielfernrohr … (Pause.) In europäischen Ländern lernte man auf einmal Russisch … in den Restaurants wurden russische Speisen serviert: Borschtsch, Pelmeni … (Pause.) Ich habe zehn Jahre in den USA und in Kanada gearbeitet. Nach Hause kehrte ich in der Gorbatschow-Zeit zurück … Ich begegnete vielen aufrichtigen, ehrlichen Menschen, die mitmachen wollten. Solche Menschen hatte ich bis dahin nur gesehen, als Gagarin in den Kosmos geflogen war. Solche Gesichter … Gorbatschow hatte viele Gleichgesinnte, am wenigsten allerdings unter den Nomenklaturkadern. Im ZK … in den Gebietskomitees … »Kurortsekretär« wurde er genannt – weil er aus Stawropol geholt worden war, wo die Generalsekretäre und Politbüromitglieder gern Urlaub gemacht hatten. »Mineralsekretär« und »Saftsohn« XIX wegen seiner Anti-Alkohol-Kampagne. Man sammelte kompromittierendes Material gegen ihn: Bei einem London-Aufenthalt hatte er das Grab von Marx nicht besucht … Ein unerhörter Vorfall! Aus Kanada zurückgekehrt, erzählte er allen, wie schön es dort sei. Das sei dort gut und jenes … bei uns dagegen … Klar, was bei uns war … Irgendwer konnte sich nicht zurückhalten: »Michail Sergejewitsch, so wird es auch bei uns sein, in hundert Jahren etwa.« »Na, du bist ja ein Optimist.« Er duzte übrigens jeden … (Pause.) Bei einem »demokratischen« Publizisten habe ich gelesen, die Kriegsgeneration … also wir … sei zu lange an der Macht geblieben. Sie hätten gesiegt, das Land wieder aufgebaut, und dann hätten sie gehen müssen, weil sie das ganze Leben nur nach ihren Kriegsmaßstäben beurteilten. Deshalb seien wir so hinter der übrigen Welt zurückgeblieben … (Aggressiv:) Die »Chicago-Boys« 8 … die »Reformer in rosa Höschen« 9 … Wo ist das große Land geblieben? Wäre das ein Krieg gewesen, hätten wir gewonnen. Wäre das ein Krieg gewesen … (Er braucht lange, um sich wieder zu beruhigen.)
    … aber dann ähnelte Gorbatschow immer mehr einem Prediger als einem Generalsekretär. Er wurde zum Fernsehstar. Bald hatten alle seine ewigen Predigten satt: »zurück zu Lenin«, »Sprung in den entwickelten Sozialismus« … Das warf die Frage auf: Was haben wir denn dann aufgebaut – einen »unterentwickelten Sozialismus«? Was ist das bei uns … (Pause. ) Ich weiß noch, dass wir im Ausland einen anderen Gorbatschow erlebten, dort erinnerte er kaum an den Gorbatschow, den wir zu Hause kannten. Dort fühlte er sich frei. Er machte gelungene Scherze, formulierte seine Gedanken klar. Zu Hause dagegen intrigierte und lavierte er. Und wurde darum als schwach empfunden. Als Schwätzer. Aber er war nicht schwach. Und auch nicht feige. Das alles ist nicht wahr. Er war ein kühler und erfahrener Politiker. Warum gab es zwei Gorbatschows? Wäre er zu Hause so offen gewesen wie »draußen«, hätten die »Alten« ihn augenblicklich durchschaut und vernichtet. Und es gibt noch einen anderen Grund … Er … so denke ich … er war schon lange kein Kommunist mehr … er glaubte nicht mehr an den Kommunismus … Heimlich oder unterbewusst war er Sozialdemokrat. Obwohl es nicht besonders breitgetreten wurde, wusste jeder, dass er in seiner Jugend an der Moskauer Universität zusammen mit dem Kopf des Prager Frühlings Alexander Dubček und seinem Mitstreiter Zdeněk Mlynář studiert hatte. Sie waren befreundet. Mlynář schreibt in seinen Erinnerungen, sie seien, nachdem man ihnen auf einer internen Parteiversammlung der Universität Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag vorgelesen habe, so erschüttert gewesen, dass sie die ganze Nacht durch Moskau gelaufen seien. Und am Morgen hätten sie auf den Leninbergen, wie einst Herzen und Ogarjow 10 , etwas geschworen: ihr Leben lang gegen den Stalinismus zu kämpfen. (Pause.) Da hat die ganze Perestroika ihren Ursprung … Im chruschtschowschen Tauwetter …
    Wir haben dieses Thema schon angeschnitten … Von Stalin bis Breschnew wurde das Land von Leuten regiert, die Frontsoldaten gewesen waren. Die die Zeit des Terrors erlebt hatten. Ihre Psyche war in einem System der Gewalt geprägt worden. Der

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