Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
vorgeschlagen, »in den Sozialismus hineinzuwachsen«, und nannte Stalin einen Dschingis Khan. Aber auch er war keine so eindeutige Figur … Genau wie alle anderen war auch er bereit, die Menschen ins Feuer der Weltrevolution zu werfen, ohne jede Rücksicht. Den neuen Menschen durch Erschießungen zu erziehen. Das hat sich nicht Stalin als Erster ausgedacht … Sie alle waren Militärs – hatten die Revolution hinter sich, den Bürgerkrieg. Das große Blutvergießen … (Pause.) Bei Lenin gibt es eine Notiz, Revolutionen kämen, wenn sie selbst es wollten, nicht, wenn irgendjemand es wolle. Ja … so … so ist das … Perestroika … Glasnost … Wir haben uns alles entgleiten lassen … Warum? In den oberen Etagen der Macht gab es nicht wenige kluge Leute. Sie alle haben Brzeziński gelesen … Aber sie dachten: Wir bessern hier und da ein bisschen aus, ölen alles schön, und weiter geht’s. Sie wussten nicht, wie sehr unsere Menschen alles Sowjetische satthatten. Sie selbst glaubten kaum an die »lichte Zukunft«, aber sie meinten, das Volk würde daran glauben … (Pause.) Nein … Achromejew wurde nicht ermordet … Lassen wir die Verschwörungstheorien beiseite … Der Selbstmord – das war sein letztes Argument. Mit seinem Abgang hat er gesagt, was ihm am wichtigsten war: Wir rasen in einen Abgrund. Das war einmal ein riesiges Land, dieses Land hat einen schrecklichen Krieg gewonnen – und nun bricht es zusammen. China ist nicht zusammengebrochen. Auch Nordkorea nicht, wo die Menschen verhungern. Auch das kleine sozialistische Kuba existiert noch, wir aber verschwinden. Man hat uns nicht mit Panzern und Raketen besiegt, sondern zerstört, was unsere größte Stärke war. Unseren Geist. Das System ist verfault, die Partei ist verfault. Und vielleicht deshalb … vielleicht war das auch ein Grund für seinen Selbstmord …
Er wurde in einem entlegenen mordwinischen Dorf geboren und verlor früh seine Eltern. In den Krieg ging er als Kadett einer Marineschule. Freiwillig. Den Tag der Befreiung erlebte er im Lazarett – physisch und psychisch vollkommen erschöpft, er wog nur noch 38 Kilo. (Pause.) Den Sieg hat eine gequälte, kranke Armee errungen. Erschöpft und hustend. Geplagt von Radikulitis, Arthritis … Magengeschwüren … So habe ich sie in Erinnerung … Er und ich gehörten zur selben Generation – der Kriegsgeneration. (Pause.) Er ist vom Kadetten in die oberste Etage der Militärpyramide aufgestiegen. Die Sowjetmacht hat ihm alles gegeben: den höchsten militärischen Rang – Marschall –, den Heldenstern, den Leninpreis … Keinem Erbprinzen, sondern einem Jungen aus einer einfachen Bauernfamilie. Aus der entlegenen Provinz. Tausenden wie ihm hat die Sowjetmacht eine Chance gegeben. Mittellosen … kleinen Leuten … Und er liebte die Sowjetmacht.
Es klingelt an der Tür. Einer seiner Bekannten. Im Flur besprechen sie lange etwas. Als N. zurückkommt, sehe ich: Er ist leicht verstimmt und redet weniger gern, doch dann lässt er sich zum Glück wieder mitreißen.
Wir haben zusammengearbeitet … ich wollte ihn zu uns holen … Er hat abgelehnt: Das ist Parteigeheimnis, das darf man nicht verbreiten. Warum es Fremden zugänglich machen? (Pause.) Ich war nicht mit Achromejew befreundet, aber ich habe ihn viele Jahre gekannt. Niemand sonst hat freiwillig das Kreuz auf sich genommen um der Rettung des Landes willen. Nur er. Wir anderen kümmerten uns um Sonderpensionen und darum, dass wir unsere vom Staat zugeteilte Datscha behalten durften. Das kann ich nicht verschweigen …
… vor Gorbatschow hat das Volk unsere Regierenden nur auf der Tribüne des Mausoleums zu sehen bekommen: Bisammützen und steinerne Gesichter. Ein Witz: »Warum gibt es keine Bisammützen mehr?« »Weil sich die Nomenklaturkader schneller vermehren als die Bisams.« (Er lacht.) Nirgends wurden so viele Witze erzählt wie im Kreml. Politische Witze … antisowjetische … (Pause.) Perestroika … Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, zum ersten Mal habe ich das Wort im Ausland gehört, von ausländischen Journalisten. Bei uns sagte man meist »Beschleunigung« und »leninscher Weg«. Im Ausland aber begann ein regelrechter Gorbatschow-Boom, überall in der Welt grassierte die »Gorbomanie«. Dort bezeichnete man alles, was bei uns geschah, als Perestroika. Alle Veränderungen. Wenn ein Autokorso mit Gorbatschow durch die Straßen fuhr, standen Tausende Menschen am Straßenrand. Tränen, Lächeln. An
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