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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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mehr gesehen. Er … so denke ich … er hat schon geahnt, wie alles kommen würde. Wie der Sozialismus zerstört werden würde. Dass das Geschwätz mit Blutvergießen enden würde. Mit Plünderei. Dass man die Denkmäler stürzen würde. Die sowjetischen Götter zu Schrott erklären. Zu Sekundärrohstoff. Dass man den Kommunisten ein Nürnberg androhen würde … Und wer würden die Richter sein? Die einen Kommunisten würden über die anderen Kommunisten zu Gericht sitzen – jene, die am Mittwoch aus der Partei ausgetreten sind, über die, die erst am Donnerstag ausgetreten sind. Dass man Leningrad umbenennen würde … die Wiege der Revolution … Dass es Mode werden würde, die KPdSU zu beschimpfen, und dass alle es tun würden. Dass sie durch die Straßen laufen würden mit Plakaten: » KPdSU – kaputt!« und »Regiere, Boris!«. Vieltausendköpfige Demonstrationen … Begeisterte Gesichter! Das Land ging unter, und sie waren glücklich, alle sahen glücklich aus. Zerstören! Stürzen! So etwas ist für uns immer ein Fest. Ein schönes Fest! Hätte jemand befohlen: »Fass!«, dann hätten Pogrome eingesetzt … »Juden und Kommissare an die Wand!« Das Volk hat darauf gewartet. Es hätte mit Freuden … Sie hätten Jagd gemacht auf alte Leute – auf Pensionäre … Ich selbst habe auf der Straße Flugblätter gefunden mit den Adressen führender ZK -Mitarbeiter – Name, Haus- und Wohnungsnummer, und ihre Fotos klebten überall. Damit man sie im Fall des Falles erkannte. Die Kommunisten flohen aus ihren Büros mit Plastiktüten. Mit Einkaufsnetzen. Viele hatten Angst, zu Hause zu übernachten, und versteckten sich bei Verwandten. Wir hatten Informationen … Wir wussten, wie es in Rumänien gewesen war … Ceauşescu und seine Frau wurden erschossen, und bündelweise wurden Tschekisten und die Parteielite eingesammelt und erschossen. In Gruben verscharrt … (Lange Pause.) Aber er … er war ein idealistischer, romantischer Kommunist. Er glaubte an die »leuchtenden Höhen des Kommunismus«. Buchstäblich. Daran, dass der Kommunismus für immer sei. So ein Bekenntnis klingt heute lächerlich … idiotisch … (Pause.) Das, was da begonnen hatte, hat er nicht akzeptiert. Er sah, wie sich die jungen Raubtiere regten … die Pioniere des Kapitalismus … Sie hatten nicht Marx und nicht Lenin im Kopf … sondern den Dollar.
    Was ist das schon für ein Putsch, wenn nicht geschossen wird? Die Armee ist feige aus Moskau geflohen. Nach der Verhaftung der Mitglieder des GKT schP rechnete er damit, dass sie bald auch zu ihm kommen und ihn in Handschellen abführen würden. Von allen Beratern und Stellvertretern des Präsidenten hat er als Einziger die »Putschisten« unterstützt. Offen unterstützt. Die Übrigen haben abgewartet. Still abgewartet. Der bürokratische Apparat – das ist eine Maschine … mit großer Manövrierfähigkeit … Großer Überlebensfähigkeit. Prinzipien? Die Bürokratie hat keine Überzeugungen, keine Prinzipien, nichts von dieser vagen Metaphysik. Hauptsache, man bleibt im Sessel und bekommt weiterhin das Seine, sein »Lämmchen in Papier« 5 oder seine »Windhundwelpen« 6 . Die Bürokratie ist unser Steckenpferd. Schon Lenin hat gesagt, die Bürokratie sei schlimmer als Denikin. Da zählt nur eines – persönliche Ergebenheit, vergiss nie, wer dein Herr ist, welche Hand dich füttert. (Pause.) Niemand kennt die Wahrheit über das GKT schP . Alle lügen. Ja … also … In Wirklichkeit war da ein großes Spiel geplant, wir wissen nichts über seine geheimen Motive und kennen auch nicht alle Beteiligten. Nebulös auch die Rolle Gorbatschows … Was hat er zu den Journalisten gesagt, als er aus Foros zurückgekehrt war? »Alles werde ich Ihnen sowieso nie erzählen.« Das wird er wirklich nicht! (Pause.) Und das ist vielleicht einer der Gründe, warum er zurückgetreten ist. (Pause.) Hunderttausendköpfige Demonstrationen … das hatte eine starke Wirkung … Da war es schwer, gelassen zu bleiben … Er hatte nicht um sich Angst … Aber er konnte sich nicht damit abfinden, dass bald alles niedergetrampelt werden würde, einbetoniert: das sowjetische System, die große Industrialisierung … der große Sieg … Und dass sich herausstellen würde, dass die Aurora gar nicht geschossen und der Sturm auf das Winterpalais nicht stattgefunden hatte …
    … schimpfen auf die Zeiten … Unsere Zeit ist gemein. Hohl. Alles vollgestopft mit Klamotten und Autos. Wo ist das große Land geblieben?

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