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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ständigen Angst. Auch das Jahr 1941 konnten sie nicht vergessen … Den schändlichen Rückzug der Sowjetarmee bis kurz vor Moskau. Wie die Soldaten in den Kampf geschickt wurden mit den Worten: Eine Waffe beschafft ihr euch im Gefecht. Die Menschen wurden nicht gezählt, nur die Patronen. Da ist es normal … Es ist logisch, dass Menschen mit diesen Erinnerungen glaubten, um den Gegner zu besiegen, müsse man Panzer und Flugzeuge bauen. Je mehr, desto besser. Es gab auf der Welt so viele Waffen, dass die UdSSR und Amerika einander tausendmal hätten vernichten können. Trotzdem wurden weiter Waffen geschmiedet. Und dann kam plötzlich eine neue Generation … Gorbatschows gesamte Mannschaft – das waren Kinder der Kriegsjahre … Ihr Bewusstsein war geprägt von der Freude am Frieden: Marschall Schukow, der auf einem weißen Pferd die Siegesparade abnimmt … Das war schon eine andere Generation … und eine andere Welt … Erstere hatten dem Westen misstraut, in ihm einen Feind gesehen, Letztere wollten leben wie im Westen. Natürlich waren die »Alten« entsetzt über Gorbatschow … über seine Worte von der »Schaffung einer kernwaffenfreien Welt« (ade, Nachkriegsdoktrin vom »Gleichgewicht des Schreckens«), darüber, dass es »in einem Atomkrieg keine Sieger geben kann« … Also lasst uns die Verteidigungsindustrie abbauen, die Armee reduzieren. Erstklassige Rüstungsbetriebe sollten also nun Töpfe herstellen und Saftpressen, oder wie? Es gab einen Moment, da befand sich die oberste Generalität beinahe im Kriegszustand mit der politischen Führung. Mit Gorbatschow. Sie konnte ihm den Verlust des Ostblocks nicht verzeihen, unseren Rückzug aus Europa. Besonders aus der DDR . Selbst Kanzler Kohl war erstaunt, wie wenig berechnend Gorbatschow dabei vorging: Man hatte uns enorme Summen für den Abzug aus Europa angeboten, doch er verzichtete darauf. Seine Naivität erstaunte. Seine russische Einfalt. Er wollte so gern geliebt werden … dass französische Hippies T- Shirts mit seinem Bild trugen … Die Interessen unseres Landes wurden dilettantisch und schmählich verraten. Die abgezogene Armee wurde in den Wald geschickt, aufs russische Feld. Offiziere und Soldaten lebten in Zelten. In Erdhütten. Die Perestroika … das war wie Krieg … Das hatte nichts von Wiedergeburt …
    Bei den sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen bekamen die Amerikaner immer, was sie wollten. Achromejew beschreibt in seinem Buch Mit den Augen eines Marschalls und Diplomaten , wie die Verhandlungen über die Oka-Raketen (im Westen nannte man sie SS 23) verliefen. Das war eine Rakete ganz neuen Typs, so etwas besaß sonst niemand, und die amerikanische Seite wollte sie vernichten. Doch sie fiel nicht unter die Vertragsbedingungen: Vernichtet werden sollten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 1000 bis 5500 Kilometern und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 1000 Kilometern. Die Reichweite der Oka-Rakete betrug 400 Kilometer. Der sowjetische Generalstab schlug den Amerikanern vor: Dann lasst uns fair sein, verbieten wir alle Raketen mit einer Reichweite nicht ab 500, sondern von 400 bis 1000 Kilometern. Doch dann hätten die Amerikaner ihre modernisierte Lance-2-Rakete mit einer Reichweite von 450 bis 470 Kilometern opfern müssen. Ein zäher Kampf hinter den Kulissen … Hinter dem Rücken der Militärs entschied Gorbatschow persönlich, die Oka-Raketen zu vernichten. Und da sagte Achromejew seinen berühmten Satz: »Vielleicht sollten wir gleich um politisches Asyl in der Schweiz bitten und gar nicht erst nach Hause zurückkehren?« Er konnte sich nicht an der Zerstörung dessen beteiligen, dem er sein ganzes Leben gewidmet hatte … (Pause.) Die Welt ist unipolar geworden, sie gehört jetzt voll und ganz Amerika. Wir sind nun schwach, wir wurden sofort an die Peripherie gedrängt. Zu einem drittrangigen, besiegten Land gemacht. Im Zweiten Weltkrieg haben wir gesiegt … Den dritten Weltkrieg haben wir verloren … (Pause.) Und er … Für ihn war das unerträglich …
    … 14. Dezember 1989 … Die Beerdigung von Sacharow. Tausende Menschen auf den Straßen von Moskau. Laut Angaben der Miliz siebzig- bis hunderttausend. Am Sarg stehen Jelzin, Sobtschak, Starowoitowa … Der amerikanische Botschafter Jack Matlock schreibt in seinen Memoiren, die Anwesenheit dieser Menschen bei der Beerdigung des »Symbols der russischen Revolution«, »des obersten Dissidenten des Landes«, sei für ihn

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