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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Heute könnten wir niemanden mehr besiegen. Und es würde auch kein Gagarin mehr in den Kosmos fliegen …
     
    Völlig überraschend hörte ich ihn am Ende eines unserer Telefonate schließlich sagen: »Gut, kommen Sie vorbei.« Wir trafen uns am nächsten Tag bei ihm zu Hause. Er trug einen schwarzen Anzug und Krawatte, trotz der Hitze. Die Kreml-Uniform.
     
    Waren Sie schon bei … (Er nennt einige bekannte Namen.) Und … (Ein weiterer Name, den jeder kennt.) Ihre Hypothese: Er wurde ermordet! Daran glaube ich nicht. Es gibt angeblich Gerüchte über irgendwelche Zeugen … Fakten … Der Bindfaden sei falsch gewesen, viel zu dünn, damit hätte man sich nur erdrosseln können, und der Schlüssel der Bürotür habe von außen gesteckt … Alles Mögliche wird erzählt … Die Leute lieben Geheimnisse des Hofes. Ich will Ihnen etwas anderes sagen: Auch Zeugen sind beeinflussbar. Das sind ja keine Roboter. Sie werden vom Fernsehen beeinflusst. Von den Zeitungen. Von Freunden … von korporativen Interessen … Wer ist im Besitz der Wahrheit? Ich sehe es so: Nach der Wahrheit suchen Leute, die speziell dafür ausgebildet sind: Richter, Wissenschaftler, Priester. Alle anderen werden von ihren Ambitionen beherrscht … von Emotionen … (Pause.) Ich habe Ihre Bücher gelesen … Sie haben zu Unrecht solches Vertrauen zum Menschen … zur menschlichen Wahrheit … Die Geschichte, das sind lebendige Ideen. Nicht die Menschen schreiben sie, sondern die Zeit. Die menschliche Wahrheit, das ist nur ein Nagel, an den jeder seinen eigenen Hut hängt …
    … man muss bei Gorbatschow anfangen … Ohne ihn würden wir noch heute in der UdSSR leben. Jelzin wäre Erster Sekretär des Gebietskomitees der Partei in Swerdlowsk, und Jegor Gaidar würde in der Redaktion der Prawda Artikel zur Wirtschaft redigieren und an den Sozialismus glauben. Und Sobtschak würde an der Leningrader Universität Vorlesungen halten … (Pause.) Die UdSSR hätte noch lange gehalten. Ein Koloss auf tönernen Füßen? Blödsinn! Wir waren eine mächtige Supermacht, wir haben vielen Ländern unseren Willen diktiert. Selbst Amerika hatte Angst vor uns. Es fehlte an Damenstrumpfhosen und Jeans? Um einen Atomkrieg zu gewinnen, braucht man keine Strumpfhosen, sondern moderne Raketen und Bomber. Die hatten wir. Erstklassige. In jedem Krieg hätten wir gesiegt. Der russische Soldat hat keine Angst vorm Sterben. Darin sind wir Asiaten … (Pause.) Stalin hat einen Staat geschaffen, den man von unten nicht zerschlagen konnte, da war er unangreifbar. Von oben aber, da war er verletzbar, ungeschützt. Niemand hätte gedacht, dass seine Zerstörung von oben beginnen würde, dass die oberste Führung des Landes den Weg des Verrats einschlagen würde. Diese Wendehälse! Der Generalsekretär entpuppt sich als oberster Revolutionär, der sich im Kreml eingenistet hat. Von oben war dieser Staat leicht zu zerstören. Die strenge Disziplin und die Hierarchie der Partei haben sich gegen sie gekehrt. Ein einzigartiger Fall in der Geschichte … Als ob … als wäre die Zerstörung des Römischen Reichs von Cäsar selbst ausgegangen … Nein, Gorbatschow war kein Pygmäe, auch kein Spielball der Umstände und kein Agent der CIA … Aber was war er?
    »Totengräber des Kommunismus« und »Vaterlandsverräter«, »Nobel-Triumphator« und »Sowjetbankrotteur«, »führender Vertreter der ›Sechziger‹« und »besserer Deutscher«, »Prophet« und »Juduschka«, »großer Reformer« und »großer Schauspieler«, »großer Gorbi« und »Gorbatsch« XVII , »Mann des Jahrhunderts« und »Herostrat« …
    Alles in einer Person …
    … auf seinen Selbstmord hat sich Achromejew mehrere Tage lang vorbereitet: Zwei Abschiedsbriefe wurden am 22. August geschrieben, einer am 23. und der letzte am 24. Was ist an diesem Tag passiert? Am 24. August übertrugen Radio und Fernsehen Gorbatschows Erklärung seines Rücktritts vom Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und seinen Aufruf zur Selbstauflösung der Partei: »Wir müssen eine schwere, aber ehrliche Entscheidung treffen.« Der Generalsekretär zog sich aus dem Kampf zurück … Er hat sich nicht an das Volk gewandt … und an die Millionen Kommunisten … Er hat sie verraten. Hat sie alle ausgeliefert. Ich kann mir vorstellen, was Achromejew in diesen Minuten empfunden haben mag. Es ist nicht ausgeschlossen, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er auf dem Weg zur Arbeit sah, wie die Fahnen von den staatlichen Institutionen

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