Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
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Das Jahr 1991? Gut waren wir damals … Schön … Wir waren nicht mehr bloße Masse. Ich habe einen Mann tanzen gesehen. Er tanzte und rief: ›Die Junta ist im Arsch! Die Junta ist im Arsch!‹ (Sie schlägt die Hände vors Gesicht.) Oh, schreiben Sie das nicht auf! Oje, oje! Das waren seine Worte, aber das kann man doch nicht drucken. Der Mann war nicht mehr jung … er tanzte … Wir hatten sie besiegt und freuten uns. Sie sollen schon fertige Erschießungslisten gehabt haben, hieß es. Jelzin stand ganz oben drauf … Vor kurzem habe ich sie alle im Fernsehen gesehen … diese Junta … Alte Männer, und nicht klug. Aber damals herrschte drei Tage lang furchtbare Verzweiflung: Ist das etwa das Ende? Eine physische Angst. Dieser Geist der Freiheit … den hatten alle gespürt … Und nun die Angst, das wieder zu verlieren. Gorbatschow ist ein großer Mann … er hat die Schleusen geöffnet … Er war beliebt, aber nicht lange, bald fand man alles an ihm ärgerlich: Wie er redet, was er sagt, seine Manieren, seine Frau. (Sie lacht.) Durch das Land jagt eine Troika: Raika, Mischka, Perestroika. Nehmen Sie … Naïna Jelzina … sie ist beliebter, sie hält sich immer hinter ihrem Mann. Raïssa dagegen stellte sich meist neben ihren Mann oder gar vor ihn. Aber bei uns ist es ja so: Entweder du bist selber Zarin, oder halt dich zurück und behindere den Zaren nicht.
Der Kommunismus ist wie das Alkoholverbot: eine gute Idee, aber sie funktioniert nicht. Das sagt mein Mann … Rote Heilige … die hat es gegeben … nehmen Sie Nikolai Ostrowski 14 … Ein Heiliger! Aber sie haben so viel Blut vergossen. Russland hat sein Limit an Blut, an Kriegen und Revolutionen ausgeschöpft … Für neues Blutvergießen ist keine Kraft mehr da und auch nicht genug Verrücktheit. Die Menschen haben genug gelitten. Jetzt gehen sie auf die Märkte – suchen sich Gardinen und Tüll aus, Tapeten, alle möglichen Pfannen. Sie mögen alles Bunte. Weil früher bei uns alles grau und hässlich war. Wir freuen uns wie Kinder über eine Waschmaschine mit siebzehn Programmen. Meine Eltern leben nicht mehr, meine Mutter ist sieben Jahre tot, mein Vater acht Jahre, aber ich benutze noch immer die Streichhölzer, die meine Mutter gehortet hat, auch der Grieß ist noch da. Und das Salz. Meine Mutter hat das alles gekauft (damals hieß es nicht ›kaufen‹, sondern ›besorgen‹) und für einen schwarzen Tag gehortet … Jetzt gehen wir auf Märkte und in Läden wie durch Ausstellungen – alles ist im Überfluss da. Man möchte sich verwöhnen, sich etwas Gutes tun. Das ist wie eine Psychotherapie … wir sind alle krank … (Sie wird nachdenklich.) Wie sehr muss man gelitten haben, um Streichhölzer so zu horten. Ich bringe es nicht über mich, das Spießertum zu nennen. Besitzgier. Das ist eine Therapie. (Sie schweigt.) Je mehr Zeit vergeht, desto weniger wird von dem Putsch gesprochen. Aus Scham. Das Gefühl eines Sieges ist weg. Weil … ich wollte nicht, dass der sowjetische Staat zerstört wird. Und mit welcher Begeisterung wir ihn zerstört haben! Wie haben wir gejubelt! Aber ich habe mein halbes Leben darin verbracht … Das kann man nicht einfach so durchstreichen … Stimmen Sie mir zu? (Sie wiederholt:) Stimmen Sie mir zu? (Natürlich stimme ich ihr zu.) In meinem Kopf ist alles sowjetisch sortiert. Zu etwas anderem muss man erst einmal kommen. Die Menschen erinnern sich heute kaum noch an das Schlechte, sie sind stolz auf den Sieg, darauf, dass wir als Erste in den Kosmos geflogen sind. Dass die Läden leer waren … Das ist vergessen … Das glaubt keiner mehr …
Gleich nach dem Putsch war ich bei meinem Großvater auf dem Land … Ich habe das Radio nicht aus der Hand gelegt. Am Morgen sind wir rausgegangen, die Beete umgraben. Nach fünf oder zehn Minuten hab ich den Spaten hingeworfen und: Großvater, hör mal … Jelzin spricht … Und dann wieder: Großvater, komm her … Großvater blieb eine Weile geduldig, dann reichte es ihm: ›Grab lieber tiefer und hör nicht auf das, was die da schwatzen. Unsere Rettung liegt hier in der Erde – ob die Kartoffeln gute Ernte bringen oder nicht.‹ Er war weise, mein Großvater. Am Abend kam ein Nachbar. Ich schnitt das Thema Stalin an. Der Nachbar: ›Er war ein guter Mann, aber er hat zu lange gelebt.‹ Mein Großvater: ›Aber ich hab ihn überlebt, den Mistkerl.‹ Und ich lief ständig mit dem Radio in der Hand rum. Ich bebte vor Begeisterung. Der größte Kummer war, wenn
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