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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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die Abgeordneten Mittagspause machten. Eine Unterbrechung.
    … Was habe ich heute? Was ist mir geblieben? Ich besitze eine riesige Bibliothek und Phonotek – das ist alles! Und meine Mutter, sie war Doktor der Chemie, sie besaß ebenfalls Bücher und eine Sammlung seltener Minerale. Einmal ist ein Dieb bei ihr eingebrochen … Mitten in der Nacht wacht sie auf, und in der Wohnung steht ein junger Kerl. Er hat den Schrank aufgemacht und wirft alles raus. Er wirft die Sachen auf den Boden und sagt: ›Verfluchte Intelligenzija … Nicht mal ein anständiger Pelzmantel …‹ Dann hat er einfach die Tür zugeschlagen und ist gegangen. Es gab nichts zu holen. So ist unsere Intelligenzija. Das ist uns geblieben. Und um uns herum bauen irgendwelche Leute Häuser, kaufen teure Autos. Ich habe noch nie einen Brillanten gesehen …
    Das Leben in Russland – das ist Belletristik. Aber ich will hier leben … mit sowjetischen Menschen … Und sowjetische Filme sehen. Auch wenn sie vielleicht Lüge sind, auch wenn es Auftragswerke waren, aber ich liebe sie heiß und innig. (Sie lacht.) Hoffentlich sieht mein Mann mich nicht im Fernsehen …«
     
    »Ich bin Offizier …
    Jetzt ich … Ich bitte ums Wort. (Ein junger Mann, vielleicht fünfundzwanzig.) Schreiben Sie das auf: Ich bin ein orthodoxer russischer Patriot. Ich diene unserem Gott. Ich diene mit Eifer … mit Hilfe von Gebeten … Wer hat Russland verkauft? Die Juden. Die Wurzellosen. Der Jude hat auch Gott oft zum Weinen gebracht.
    Eine weltweite Verschwörung … Wir haben es mit einer Verschwörung gegen Russland zu tun. Einem Plan der CIA … Da höre ich gar nicht hin … Erzählen Sie mir nicht, das sei eine Fälschung! Ruhe! Der Plan von CIA -Direktor Allen Dulles … ›Verbreiten wir Chaos in der Sowjetunion, ersetzen wir ihre Werte unmerklich durch Scheinwerte. Wir werden unsere Verbündeten und Gesinnungsgenossen in Russland selbst finden. Wir werden die jungen Leute zu Zynikern und Kosmopoliten machen. So werden wir vorgehen …‹ Klar? Die Juden und die Amis – das sind unsere Feinde. Die blöden Yankies. Clinton hat auf einer internen Sitzung der amerikanischen politischen Elite gesagt: ›Wir haben geschafft, was Präsident Truman mit Hilfe der Atombombe erreichen wollte … Wir haben es geschafft, ohne in einem Krieg um die Weltherrschaft den Staat aus dem Weg zu räumen, der Amerikas wichtigster Konkurrent war …‹ Wie lange sollen unsere Feinde noch über uns triumphieren? Jesus hat gesagt: Fürchtet euch nicht und ängstigt euch nicht, seid getrost und unverzagt. Der Herr wird Erbarmen haben mit Russland und es auf dem Weg des Leidens zu großem Ruhm führen …
    (Ich kann ihn nicht stoppen.)
    1991 habe ich die Militärschule absolviert, mit zwei Sternen. Als Unterleutnant. Ich war stolz auf meine Uniform und habe sie immer getragen. Ein sowjetischer Offizier! Ein Verteidiger! Doch nach dem Scheitern des GKT schP bin ich in Zivil zum Dienst gefahren und habe mich erst dort umgezogen. Jeder Opa konnte mich an der Haltestelle ansprechen und fragen: ›Warum hast du denn die Heimat nicht verteidigt, Junge? Du Hundesohn! Du hast doch einen Eid geleistet.‹ Die Offiziere hungerten. Für einen Offizierssold bekam man ein Kilo billige Wurst. Ich nahm meinen Abschied von der Armee. Eine Zeitlang habe ich nachts Prostituierte bewacht. Jetzt arbeite ich als Wachmann bei einer Firma. Jidden! Alles Unglück kommt von denen … Der russische Mensch aber hat keine Chance. Sie haben Jesus gekreuzigt … (Er drängt mir ein Flugblatt auf.) Lesen Sie … Weder die Miliz noch die Armee wird die Sobtschaks und Tschubaisse … und die Nemzows 15 … vor dem gerechten Volkszorn schützen. ›Chaim, hast du gehört, es wird bald ein Pogrom geben!‹ ›Ich habe keine Angst. Laut Ausweis bin ich Russe.‹ ›Dummkopf, Prügel gibt’s nach der Fresse, nicht nach dem Ausweis.‹ (Er bekreuzigt sich.)
    Auf russischem Boden eine russische Ordnung! Die Namen von Achromejew, Makaschow 16 … und anderen Helden … die stehen auf unseren Bannern! Der Herr wird uns nicht verlassen …«
     
    »Ich bin Student …
    Achromejew? Wer ist das? Wer ist der Typ?«
    »Das GKTs chP … die Augustrevolution …«
    »Verzeihung … Ich habe keine Ahnung ….«
    »Wie alt sind Sie?«
    »Neunzehn. Ich interessiere mich nicht für Politik. Ich hab keinen Bock auf diese Shows. Aber Stalin gefällt mir. Der ist interessant. Vergleichen Sie nur unsere heutigen Regierenden mit dem Führer im

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