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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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diese ›schreckliche sowjetische Erziehung‹ hat mir beigebracht, nicht nur an mich selbst zu denken, sondern auch an andere. An diejenigen, die schwächer sind, an die, denen es schlechtgeht. Für mich war Gastello 12 ein Held, nicht diese … diese Kerle in den weinroten Jacketts … deren Philosophie darin besteht, dass einem das Hemd näher ist als der Rock, dass das eigene Fett besser wärmt und die eigene Münze heller klingt. Verschon mich mit deinem ›Ideologiegequatsche‹, deinem ›humanistischen Gesäusel‹ … Wo lernt er so was? Die Menschen heute sind anders … kapitalistisch … Verstehen Sie! Er saugt das auf, er ist zwölf Jahre alt. Ich bin für ihn kein Vorbild mehr.
    Warum ich Jelzin verteidigt habe? Eine einzige Rede von ihm, dass man der Nomenklatura die Privilegien wegnehmen muss, hat ihm Millionen Anhänger eingebracht. Ich war bereit, zur Maschinenpistole zu greifen und Kommunisten zu erschießen. Ich habe mich überzeugen lassen … Wir haben damals nicht begriffen, was wir stattdessen bekommen würden. Untergeschoben. Ein grandioser Betrug! Jelzin hat gegen die ›Roten‹ geredet und sich zum ›Weißen‹ erklärt. Eine Katastrophe … Die Frage ist: Was haben wir gewollt? Einen sanften Sozialismus … einen menschlichen … Und was haben wir jetzt? Wilden Kapitalismus. Schießereien. Verteilungskämpfe. Darum, wem ein Laden gehört und wem ein Betrieb. Ganz oben sind heute die Banditen … Schwarzhändler und Geldwechsler haben jetzt die Macht … Überall nur Feinde und Räuber. Schakale! (Pause.) Ich kann nicht vergessen … ich kann nicht vergessen, wie wir vorm Weißen Haus gestanden haben … Für wen haben wir die Kastanien aus dem Feuer geholt? (Er flucht.) Mein Vater war ein echter Kommunist. Ein aufrechter. Er war Parteisekretär in einem großen Betrieb. Kriegsveteran. Ich sagte zu ihm: ›Freiheit! Wir werden endlich ein normales … zivilisiertes Land …‹ Und er darauf: ›Deine Kinder werden einem Herrn dienen. Willst du das?‹ Ich war jung … und dumm … Ich habe ihn ausgelacht … Wir waren furchtbar naiv. Ich weiß nicht – warum ist alles so gekommen? Ich weiß es nicht. Nicht so, wie wir eigentlich wollten. Wir hatten etwas anderes im Sinn … Perestroika … das hatte etwas Großes … (Pause.) Nach einem Jahr wurde unser Konstruktionsbüro geschlossen, und meine Frau und ich standen auf der Straße. Wie wir gelebt haben? Wir haben alles, was Wert hatte, auf den Markt getragen. Kristall, sowjetisches Gold und das Wertvollste, das wir besaßen – Bücher. Wochenlang haben wir uns nur von Kartoffelbrei ernährt. Ich zog ein ›Geschäft‹ auf. Ich verkaufte auf dem Markt Kippen – Zigarettenstummel. Ein Literglas voll Kippen … ein Dreiliterglas … Meine Schwiegereltern (Uni-Dozenten) sammelten die Kippen auf der Straße auf, und ich verkaufte sie. Und die Leute kauften. Und rauchten das Zeug. Ich selber auch. Meine Frau putzte in Büros. Eine Zeitlang haben wir für einen Tadschiken Pelmeni verkauft. Wir haben für unsere Naivität teuer bezahlt. Wir alle … Jetzt züchten meine Frau und ich Hühner, sie weint ohne Ende. Wenn man doch alles zurückdrehen könnte … Da brauchen Sie gar keinen Schuh nach mir zu werfen … Das ist keine Nostalgie nach grauer Wurst für zwei Rubel zwanzig Kopeken …«
     
    »Ich bin Geschäftsmann …
    Die verfluchten Kommunisten und die KGB -Bande … Ich hasse die Kommunisten. Die sowjetische Geschichte, das sind NKWD , Gulag, SMERSCH . Mir wird übel von roter Farbe. Von roten Nelken … Meine Frau hat sich mal eine rote Bluse gekauft – ›Was soll das, du bist wohl verrückt!‹. Ich setze Stalin und Hitler gleich. Und ich verlange ein Nürnberg für unsere roten Schweinehunde. Tod allen roten Hunden!
    Überall sind wir von fünfzackigen roten Sternen umgeben. Die bolschewistischen Idole stehen nach wie vor auf den Plätzen. Ich gehe mit meinem Kind die Straße entlang, und es fragt: ›Wer ist das?‹ Es ist ein Denkmal für Rosa Semljatschka 13 , die die Krim in Blut getaucht hat. Junge weiße Offiziere erschoss sie gern persönlich … Und ich weiß nicht, was ich meinem Kind antworten soll.
    Solange die Mumie … der sowjetische Pharao … solange der noch in seinem Tempel auf dem Roten Platz liegt, so lange werden wir weiter leiden. Werden verflucht sein …«
     
    »Ich bin Konditorin …
    Mein Mann könnte was erzählen … Wo ist er? (Sie schaut sich nach allen Seiten um.) Aber ich? Ich knete nur Kuchen

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