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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Soldatenmantel. Zu wessen Gunsten fällt der Vergleich aus? Eben … Ich brauche kein großes Russland. Ich werde keine albernen Stiefel anziehen und mir keine MP i um den Hals hängen. Ich will nicht sterben! (Er schweigt eine Weile.) Der ewige russische Traum: Koffer packen und nichts wie weg aus Russland! Nach Amerika! Aber weggehen und dann dort mein Leben lang kellnern, das will ich nicht. Ich überlege noch.«
     
     
    XVII Gorbatsch – russ. »der Bucklige«.
     
    XVIII Wertuschka – Bezeichnung für kremlinterne Telefone für Direktverbindungen.
     
    XIX Saftsohn – russ. »sokin syn«, Anspielung auf »sukin syn« – »Hundesohn«.

VON DEN ALMOSEN DER ERINNERUNG
UND DER GIER NACH EINEM SINN
     
Igor Poglasow, Schüler der achten Klasse, 14 Jahre alt
     
Aus der Erzählung der Mutter
     
    Mir kommt das vor wie Verrat … Ich verrate meine Gefühle, verrate unser Leben. Verrate unsere Worte … Sie waren nur für uns bestimmt, und nun lasse ich einen fremden Menschen in unsere Welt. Ob dieser Mensch gut ist oder schlecht, spielt dabei keine Rolle. Ob er mich versteht oder nicht … Ich erinnere mich, wie einmal eine Frau, die auf dem Markt stand und Äpfel verkaufte, allen erzählte, wie sie ihren Sohn begraben hat. Damals habe ich mir geschworen: Das wird mir nie passieren. Mein Mann und ich schweigen zu diesem Thema nur, wir weinen, aber jeder für sich, damit es der andere nicht sieht. Ein Wort, und ich fange an zu heulen. Das erste Jahr konnte ich mich gar nicht beruhigen: Warum? Wieso hat er das getan? Ich möchte gern denken … Ich tröste mich: Er wollte uns nicht verlassen … er wollte es nur ausprobieren … einen Blick werfen … In der Jugend beschäftigt einen die Frage: Was ist dort? Besonders Jungen beschäftigt das … Nach seinem Tod habe ich seine Hefte durchstöbert, seine Gedichte. Wie ein Spürhund. (Sie weint.) Eine Woche vor jenem Sonntag … da stand ich vorm Spiegel und kämmte mich … Er trat zu mir, legte den Arm um mich. Wir standen zusammen vorm Spiegel, schauten hinein und lächelten. »Igorjok«, ich schmiegte mich an ihn, »was bist du doch für ein hübscher Junge. Das kommt, weil du aus Liebe entstanden bist. Aus großer Liebe.« Er umarmte mich noch heftiger. »Mama, du bist wie immer unvergleichlich.« Mich fröstelt bei dem Gedanken: Damals vorm Spiegel, hat er da schon daran gedacht oder nicht?
    Liebe … Ich finde es seltsam, dieses Wort auszusprechen. Mich daran zu erinnern, dass es die Liebe gibt. Dabei habe ich einmal gedacht, die Liebe sei größer als der Tod … sie sei stärker als alles andere … Mein Mann und ich haben uns in der zehnten Klasse kennengelernt. Die Jungs aus der Nachbarschule kamen zu uns zum Tanzen. An unseren ersten Abend erinnere ich mich nicht, denn da habe ich Vadik, so heißt mein Mann, nicht bemerkt, er mich zwar schon, aber er hat mich nicht angesprochen. Er hat nicht einmal mein Gesicht gesehen, nur meine Silhouette. Und es sei gewesen, als hätte ihm eine Stimme zugeflüstert: »Das ist deine künftige Frau.« Das hat er mir hinterher gestanden … (Sie lächelt.) Aber vielleicht hat er sich das nur ausgedacht? Er hat viel Phantasie. Aber der Zauber war immer bei uns, und er trug mich durchs Leben. Ich war fröhlich, irrsinnig fröhlich, unbezähmbar – so war ich. Ich liebte meinen Mann, aber ich flirtete auch gern mit anderen Männern, das war wie ein Spiel: Du gehst die Straße entlang, du wirst angeschaut, und es gefällt dir, dass man dich anschaut, sogar ein bisschen verliebt. »Womit hab ich das alles verdient?«, sang ich wie meine geliebte Maja Kristallinskaja. Ich eilte durchs Leben, und heute bedaure ich, dass ich mich nicht an alles erinnere – ich werde nie wieder so voller Freude sein. Zum Lieben braucht man viel Kraft, und ich bin jetzt anders. Ich bin jetzt normal. (Sie schweigt.) Manchmal möchte ich mich daran erinnern, wie ich früher war … aber meistens ist es mir peinlich …
    Igorjok war drei oder vier … Ich badete ihn. »Mama, ich hab dich so lieb wie die Schöne Wassilissa.« XX (Sie lächelt.) Davon kann man zehren, davon zehre ich jetzt. Almosen der Erinnerung … ich sammle jeden Krümel auf … Ich bin Lehrerin, ich unterrichte russische Sprache und Literatur. Das gewohnte Bild zu Hause: Ich sitze über Büchern, er im Küchenschrank. Während er Töpfe, Pfannen, Löffel und Gabeln ausräumt, bereite ich mich auf den Unterricht am nächsten Tag vor. Später, er ist schon größer, sitze ich da und

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