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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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schreibe, und auch er sitzt an seinem Tisch und schreibt. Er hat früh lesen gelernt. Und schreiben. Als er drei war, lernte ich mit ihm Verse von Michail Swetlow auswendig: »Kachowka, Kachowka – geliebtes Gewehr, du Kugel, so heiß, fliege weit!« 1 Hier muss ich etwas weiter ausholen … Ich wollte, dass er klug und stark wird, und wählte für ihn Gedichte über Helden aus, über den Krieg. Über die Heimat. Und eines Tages verblüffte mich meine Mutter: »Vera, hör auf, ihm Kriegsgedichte vorzulesen. Er spielt immer nur Krieg.« »Alle Jungen spielen gern Krieg.« »Ja, aber Igor spielt gern, dass auf ihn geschossen wird und er umfällt. Dass er stirbt! Er fällt mit solcher Freude, mit solcher Begeisterung, dass ich manchmal Angst bekomme. Er ruft den anderen Jungen zu: ›Ihr schießt, ich falle um.‹ Nie umgekehrt.« (Nach einer langen Pause.) Warum habe ich nicht auf meine Mutter gehört?
    Ich schenkte ihm Kriegsspielzeug: einen Panzer, Zinnsoldaten, ein Scharfschützengewehr … Er war doch ein Junge, er sollte ein Soldat werden. In der Spielanleitung zum Gewehr stand: »Ein Scharfschütze muss ruhig und mit Bedacht töten … er muss zuerst sein Ziel genau kennenlernen …« Das galt als ganz normal, niemanden erschreckte das. Warum? Unsere Psyche war auf Krieg ausgerichtet. »Und ist morgen schon Krieg, ziehn wir morgen ins Feld …« 2 Anders kann ich mir das nicht erklären. Ich finde keine andere Erklärung … Heute bekommen die Kinder schon seltener Säbel und Pistolen geschenkt – Piff, paff! Aber wir … Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ein Lehrer bei uns in der Schule erzählte, in Schweden oder so sei Kriegsspielzeug verboten. Wie soll man da einen Jungen zum Mann erziehen? Zum Verteidiger? (Mit versagender Stimme.) »Dem Tod schau kühn ins Angesicht, du Sänger hoch zu Pferde.« 3 Wenn wir zusammenkommen, egal aus welchem Anlass, reden wir nach fünf Minuten vom Krieg. Wir sangen oft Kriegslieder. Gibt es noch irgendwo solche Menschen wie uns? Auch die Polen haben im Sozialismus gelebt, die Tschechen, die Rumänen, aber sie sind trotzdem anders … (Sie schweigt.) Jetzt weiß ich nicht, wie ich überleben soll. Woran soll ich mich festhalten? Woran …
    (Sie flüstert nur noch. Aber mir kommt es vor, als würde sie schreien.)
    … wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn im Sarg liegen … Wir waren doch glücklich … Warum meinte er, der Tod habe so viel Schönes …
    … meine Freundin ging mit mir zur Schneiderin: »Du musst dir ein neues Kleid machen lassen. Wenn ich Depressionen habe, lasse ich mir immer ein neues Kleid machen.«
    … im Schlaf streichelt jemand meinen Kopf … Das erste Jahr lief ich oft aus dem Haus in den Park und schrie dort … die Vögel erschraken jedes Mal …
    Er war zehn, nein, wahrscheinlich elf … Ich schleppte mich mit zwei schweren Taschen mühsam nach Hause. Nach einem ganzen Tag in der Schule. Ich komme rein. Beide liegen auf dem Sofa: der eine mit einer Zeitung, der andere mit einem Buch. In der Wohnung herrscht ein Durcheinander, unglaublich! Ein Berg schmutziges Geschirr! Und die beiden empfangen mich begeistert! Ich greife zum Besen. Sie verbarrikadieren sich mit Stühlen. »Kommt raus!« »Niemals!« »Ihr könnt auslosen – wen soll ich mir als Ersten vornehmen?« »Mamotschka-dewotschka XXI , nicht böse sein!«, ruft Igor und kommt als Erster raus, er ist schon so groß wie sein Vater. »Mamotschka-dewotschka«, das ist mein Kosename zu Hause. Den hat er sich ausgedacht.
    … Im Sommer fuhren wir meist in den Süden, »zu den Palmen, die der Sonne am nächsten sind«. (Freudig.) Solche Dinge fallen mir wieder ein … unsere Worte … Die Wärme war gut für seine chronische Nasenhöhlenentzündung. Danach zahlten wir bis zum März unsere Schulden ab und lebten sehr sparsam: Pelmeni als Vorsuppe, Pelmeni als Hauptgericht und Pelmeni zum Tee. (Sie schweigt.) Ich erinnere mich an ein buntes Werbeplakat. Das sommerlich heiße Gursuf 4 . Das Meer … Steine und Sand, weiß von den Wellen und der Sonne … Wir haben noch viele Fotos, die verstecke ich nun vor mir. Ich habe Angst … das könnte in mir eine Explosion auslösen … Ja, eine Explosion! Einmal fuhren wir ohne ihn. Auf halbem Weg sind wir umgekehrt. »Igorjok«, so stürmten wir in die Wohnung, »du kommst mit. Wir können nicht ohne dich!« Er schrie »Hurra!« und warf sich mir an den Hals. (Nach einer langen Pause.) Wir können nicht ohne ihn …
    Warum hat unsere Liebe

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