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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ihn nicht zurückgehalten? Ich hatte doch geglaubt, die Liebe könne alles. Wieder muss ich … wieder …
    Es war schon passiert … er war nicht mehr bei uns … Ich war lange wie erstarrt. »Vera«, rief mein Mann, und ich hörte ihn nicht. »Vera …« Ich hörte nichts. Und dann wurde ich plötzlich hysterisch. Ich schrie, stampfte mit den Füßen auf – meine eigene Mutter, meine geliebte Mutter, schrie ich an: »Du Ungeheuer, du Ungeheuer – du Tolstojanerin! Und genau solche Ungeheuer hast du großgezogen! Was hast du uns ein Leben lang erzählt? Man soll für andere leben … für ein erhabenes Ziel … Sich unter einen Panzer werfen, in einem Flugzeug verbrennen für die Heimat. Der Donner der Revolution … Heldentod … Der Tod war schöner als das Leben. Wir sind zu Ungeheuern und Unmenschen herangewachsen. Auch Igorjok habe ich so erzogen. Du bist an allem schuld! Du!« Meine Mutter krümmte sich zusammen und wurde auf einmal ganz klein. Eine kleine alte Frau. Es versetzte mir einen Stich ins Herz. Zum ersten Mal seit vielen Tagen spürte ich wieder Schmerz; davor hatte mir einmal jemand im Bus einen schweren Koffer auf den Fuß gestellt, und ich hatte nichts gespürt. In der Nacht schwollen alle Zehen an, da fiel mir der Koffer wieder ein. (Unter Tränen.) Hier muss ich kurz von meiner Mutter erzählen … Meine Mutter gehört zur Generation der Vorkriegsintelligenz. Zu den Leuten, denen Tränen in die Augen stiegen, wenn die Internationale erklang. Sie hat den Krieg überlebt und immer wieder daran erinnert, dass ein sowjetischer Soldat die rote Fahne auf dem Reichstag gehisst hat: »Einen solchen Krieg hat unser Land gewonnen!« Zehn … zwanzig … vierzig Jahre lang … sagte sie das immer wieder, wie eine Beschwörung. Wie ein Gebet … Das war ihr Gebet … »Wir hatten nichts, aber wir waren glücklich« – davon war meine Mutter absolut überzeugt. Da war jeder Streit sinnlos. Lew Tolstoi, den »Spiegel der russischen Revolution« 5 , liebte sie für Krieg und Frieden und dafür, dass der Graf seinen ganzen Besitz an die Armen verteilen wollte, um seine Seele zu retten. So war nicht nur meine Mutter, so waren auch alle ihre Freunde – die erste Generation der sowjetischen Intelligenz, aufgewachsen mit Tschernyschewski 6 , Dobroljubow 7 , Nekrassow 8 … mit dem Marxismus … Mir vorzustellen, dass meine Mutter mit einem Stickrahmen dasitzt oder unsere Wohnung irgendwie schmückt – mit Vasen, Porzellanfigürchen – nicht doch! Das war sinnlose Zeitverschwendung. Kleinbürgerlich! Die Hauptsache war das Geistige … Bücher … Einen Anzug konnte man zwanzig Jahre lang tragen, und zwei Mäntel reichten fürs ganze Leben, aber ohne Puschkin oder ohne eine vollständige Gorki-Ausgabe konnte man nicht leben. Wer teilhat an großen Gedanken, der hat auch selbst große Gedanken … So haben sie gelebt …
    … bei uns im Stadtzentrum gibt es einen alten Friedhof. Mit vielen Bäumen. Fliederbüschen. Dort gehen die Leute spazieren wie in einem botanischen Garten. Nur wenige alte Leute, die Jungen lachen und küssen sich. Hören Musik … Einmal kam er spät nach Hause. »Wo warst du?« »Auf dem Friedhof.« »Wieso gehst du auf den Friedhof?« »Da ist es interessant. Man schaut in die Augen von Menschen, die nicht mehr leben.«
    … öffne ich seine Zimmertür … Er steht aufrecht auf dem Fenstersims, der Sims ist uneben und bröckelig. Fünfter Stock! Ich erstarre. Ich kann nicht schreien wie damals, wenn er als Kind auf die dünne oberste Spitze eines Baumes oder die hohe alte Mauer einer zerstörten Kirche geklettert war: »Wenn du fühlst, dass du dich nicht mehr halten kannst, fall auf mich.« Ich schrie nicht und weinte nicht, um ihn nicht zu erschrecken. An der Wand entlang schlich ich zurück. Nach fünf Minuten, die mir vorkamen wie eine Ewigkeit, bin ich wieder rein – er war wieder vom Sims gesprungen und lief im Zimmer herum. Ich stürzte mich auf ihn, küsste und – schüttelte ihn. »Warum hast du das gemacht? Warum?« »Ich weiß nicht. Ich hab’s mal ausprobiert.«
    Einmal sah ich vor dem Nachbareingang am Morgen Trauerkränze. Jemand war gestorben. Irgendwer. Als ich von der Arbeit komme, erfahre ich von meinem Mann, dass der Junge dort war. Ich frage: »Warum? Wir kennen die Leute doch gar nicht.« »Es war ein junges Mädchen. Sie war so schön, wie sie dalag. Und ich dachte, der Tod wäre gruselig …« (Sie schweigt.) Er kreiste immer darum herum … es zog ihn dorthin

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