Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
… das alles zusammen ist in meiner Erinnerung Glück … Diese Gerüche, diese Töne … Das Klappern der Schreibmaschine, die morgendlichen Rufe der Milchfrauen vom Lande: »Milch! Milch!« Noch nicht alle besaßen einen Kühlschrank, die Gläser mit Milch wurden auf den Balkon gestellt. Und vor den Fenstern hingen Einkaufsnetze mit Hühnern. Zwischen den Doppelrahmen der Fenster lagen Watte mit Flitter, damit es hübsch aussah, und Antonow-Äpfel. Aus den Kellern roch es nach Katzen … Und der unnachahmliche Wischlappen-und-Chlor-Geruch der sowjetischen Kantinen? Das alles hat scheinbar nichts miteinander zu tun, aber es ist für mich zu einem einzigen Empfinden verschmolzen. Zu einem einzigen Gefühl. Die Freiheit hat andere Gerüche … anderen Müll … andere Bilder … Alles ist anders … Als mein Freund von seiner ersten Auslandsreise zurückkam, das war schon unter Gorbatschow, sagte er: »Die Freiheit riecht nach guter Soße.« Ich selbst erinnere mich sehr gut an meinen ersten Supermarkt, den ich in Berlin gesehen habe – hundert Sorten Wurst, hundert Sorten Käse. Unfassbar. Nach der Perestroika warteten viele neue Entdeckungen auf uns, viele neue Gefühle und neue Gedanken. Sie wurden noch nicht beschrieben, sie sind noch nicht in die Geschichte eingegangen. Es gibt dafür noch keine Formeln … Aber ich bin zu schnell … ich springe von einer Zeit in die andere … Die große Welt werden wir erst später entdecken. Damals träumten wir nur davon … von etwas, das wir nicht hatten, aber gern haben wollten … Es war schön, von einer Welt zu träumen, die wir nicht kannten. Wir träumten … Und lebten das sowjetische Leben, in dem einheitliche Spielregeln galten, an die sich alle hielten. Da steht zum Beispiel jemand auf einer Tribüne. Er lügt, und alle klatschen, aber alle wissen, dass er lügt, auch er weiß, dass alle wissen, dass er lügt. Aber er sagt das alles und freut sich über den Beifall. Wir hatten keinen Zweifel daran, dass auch wir so leben würden und uns eine Nische suchen mussten. Meine Mutter hörte den verbotenen Liedermacher Galitsch … und auch ich hörte Galitsch …
Da fällt mir noch etwas ein … Wie wir nach Moskau fahren wollten, zu Wyssozkis Beerdigung, und die Miliz uns aus dem Zug holte … Wir röhrten: »Schnell, rettet unsre Seelen! Der Mief wird uns ersticken …« 12 und »Viel zu kurz. Viel zu weit. Viel zu kurz. Sie beschießen die eignen Reihn …« 13 Ein Skandal! Der Direktor zitierte uns mit unseren Eltern in die Schule. Meine Mutter begleitete mich, und sie reagierte großartig … (Sie überlegt.) Unser Leben spielte sich in der Küche ab … das Leben des ganzen Landes spielte sich in den Küchen ab … Wir saßen zusammen, tranken Wein, hörten Lieder, redeten über Gedichte. Eine offene Konservenbüchse, Schwarzbrot. Wir fühlten uns wohl. Wir hatten unsere eigenen Rituale: Paddelboote, Zelte und Wanderungen. Lieder am Lagerfeuer. Es gab Zeichen, an denen wir einander erkannten. Wir hatten unsere eigene Mode, unseren eigenen Schick. Diese heimlichen Küchengesellschaften existieren schon lange nicht mehr. Genau wie jene Freundschaft, von der wir glaubten, sie sei ewig. Ja … sie sollte ewig halten … Nichts ging über unsere Freundschaft. Dieser wunderbare Klebstoff hielt alles zusammen …
In Wirklichkeit lebte keiner von uns in der UdSSR , jeder lebte in seinem Kreis. Dem Kreis der Rucksacktouristen, dem der Bergsteiger … Wir trafen uns nach dem Unterricht oft in einer Wohnungsverwaltung, dort hatte man uns einen Raum zugeteilt. Wir gründeten ein Theater, da spielte ich mit. Es gab einen Literaturzirkel. Ich weiß noch, wie Igor dort seine Gedichte vortrug, er eiferte Majakowski nach und war unwiderstehlich. Sein Spitzname bei uns war »Student«. Zu uns kamen erwachsene Dichter, und sie redeten ganz offen mit uns. Von ihnen erfuhren wir die Wahrheit über die Ereignisse in Prag. Über den Krieg in Afghanistan. Was … was noch? Wir lernten Gitarre spielen. Ja, das war obligatorisch. In jenen Jahren gehörte die Gitarre zu den lebenswichtigsten Dingen. Auf Knien hätten wir unseren geliebten Dichtern und Barden zugehört. Dichter füllten ganze Stadien. Unter dem Schutz von berittener Miliz. Das Wort war Tat. Auf einer Versammlung aufstehen und die Wahrheit sagen – das war eine Tat, denn das war gefährlich. Auf die Straße zu gehen … Das war ein solcher Drive, ein solcher Adrenalinschub, ein solches Ventil. Alles wurde in das Wort
Weitere Kostenlose Bücher