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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gelegt … Heute ist das kaum zu glauben, heute geht es ums Tun, nicht ums Sagen. Sagen kannst du absolut alles, aber das Wort hat keinerlei Macht mehr. Wir würden gern glauben, aber wir können es nicht. Allen ist alles scheißegal, und die Zukunft ist ein Dreck. Bei uns war das anders … O ja! Gedichte, Gedichte … Worte, Worte …
    (Sie lacht.) In der zehnten Klasse hatte ich einen Freund. Er wohnte in Moskau. Ich fuhr für nur drei Tage zu ihm. Am Morgen bekamen wir auf dem Bahnhof von seinen Freunden eine Rotaprintausgabe der Memoiren von Nadeschda Mandelstam, die lasen damals alle. Am nächsten Morgen um vier sollten wir das Buch zurückgeben. Es zu einem durchfahrenden Zug bringen. Wir lasen den ganzen Tag ununterbrochen, nur einmal liefen wir Milch und Brot holen. Sogar das Küssen vergaßen wir, wir reichten einander nur die bedruckten Blätter zu. Wir waren wie im Fieber, weil wir dieses Buch in der Hand hielten … es lasen … An nächsten Tag vor vier Uhr früh liefen wir durch die menschenleere Stadt zum Bahnhof, Verkehrsmittel fuhren noch nicht. Ich erinnere mich gut an diese nächtliche Stadt, daran, wie wir durch die Straßen liefen, und das Buch lag in meiner Handtasche. Wir trugen es wie eine Geheimwaffe … So sehr glaubten wir, das Wort könne die Welt erschüttern.
    Die Gorbatschow-Jahre … Freiheit und Marken. Bezugsscheine … Marken … Für alles: von Brot über Grieß und Buchweizen bis hin zu Socken. Fünf, sechs Stunden Schlange stehen … Aber du hast ein Buch dabei, das du früher nicht kaufen konntest, und weißt, dass am Abend im Fernsehen ein Film laufen wird, der früher verboten war und zehn Jahre auf Eis gelegen hat. Wahnsinn! Oder du denkst den ganzen Tag an die abendliche Sendung Wsgljad … Ihre Moderatoren Alexander Ljubimow und Wladislaw Listjew waren Nationalhelden. Wir erfuhren die Wahrheit … dass es nicht nur einen Gagarin gegeben hat, sondern auch einen Berija … Tatsächlich hätte mir Dummchen die Freiheit des Wortes gereicht, denn ich war, wie sich bald herausstellte, ein durch und durch sowjetisches Mädchen, ich hatte alles Sowjetische tiefer verinnerlicht, als wir geglaubt hatten. Mich brauchte man nur die verbotenen Bücher von Dowlatow und Viktor Nekrassow lesen und Galitsch hören lassen. Das hätte mir gereicht. Ich habe nicht davon geträumt, nach Paris zu fahren, über den Montmartre zu laufen … oder Gaudís Sagrada Familia zu sehen … Lasst uns nur lesen und reden. Lesen! Unsere Oletschka wurde krank, sie war erst vier Monate alt und hatte eine schwere Bronchialobstruktion. Ich war halb verrückt vor Angst. Wir lagen beide im Krankenhaus, ich durfte sie keinen Augenblick hinlegen, nur aufrecht auf meinem Arm schlief sie ein. Aufgerichtet. Ich lief mit ihr endlos durch die Flure. Wenn sie mal für eine halbe Stunde einschlief, was meinen Sie, was ich da tat? Ich … unausgeschlafen und erschöpft, wie ich war … Was tat ich? Ich hatte immer den Archipel Gulag unterm Arm – den schlug ich dann auf. Auf einem Arm mein todkrankes Kind, unter dem anderen Solschenizyn. Die Bücher ersetzten uns das Leben. Das war unsere Welt.
    Dann geschah etwas … Wir kamen auf den Boden herunter. Glücksgefühl und Euphorie schlugen plötzlich um. Vollkommen. Ich begriff, dass diese neue Welt nicht meine war, nichts für mich. Sie brauchte irgendwie andere Menschen. Tritt die Schwachen mit Stiefeln ins Gesicht! Das Unterste kam nach oben … im Grunde eine weitere Revolution … Aber diese Revolution hatte irdische Ziele: Jedem ein eigenes Haus und ein Auto. Ist das nicht recht kleinkariert für den Menschen? Die Straßen waren plötzlich voller Muskelpakete in Trainingsanzügen. Wölfe! Sie haben alle niedergetrampelt. Meine Mutter war Meisterin in einer Näherei. Bald … sehr bald wurde der Betrieb geschlossen … und meine Mutter saß zu Hause und nähte Unterhosen. Auch alle ihre Freundinnen nähten Unterhosen, egal, wo wir hinkamen. Wir wohnten in einem Haus, das die Näherei für Betriebsangehörige gebaut hatte, und so nähten nun alle – Unterhosen und Büstenhalter. Badeanzüge. In großem Stil wurden aus alten Sachen – eigenen und denen von Bekannten – die Label rausgetrennt, vor allem ausländische, und in diese Badeanzüge genäht. Dann fuhren die Frauen mit Säcken voller Sachen alle zusammen durch Russland. Ich war zu der Zeit Doktorandin. (Fröhlich.) Ich erinnere mich … das war eine echte Komödie … in der Unibibliothek und im Büro des

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