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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Dekans standen Fässer mit eingelegten Gurken und Tomaten, mit Pilzen und Sauerkraut. Das wurde verkauft, und von den Einnahmen bekamen die Dozenten ihr Gehalt. Oder die ganze Fakultät schwamm plötzlich in Apfelsinen. Oder überall lagen Packungen mit Herrenoberhemden herum … Die große russische Intelligenzija versuchte zu überleben, so gut sie konnte. Alte Kochrezepte wurden ausgegraben … was die Leute im Krieg gegessen hatten … In entlegenen Ecken in Parks und auf Bahndämmen wurden Kartoffeln angebaut … Wochenlang nichts zu essen als Kartoffeln – ist das Hunger oder nicht? Oder nichts als Sauerkraut? Ich kriege für alle Zeiten keins mehr runter. Wir lernten, Chips aus Kartoffelschalen zu machen, und gaben dieses wunderbare Rezept untereinander weiter: Die Kartoffelschalen in heißes Sonnenblumenöl werfen und viel Salz dazu. Es gab keine Milch, aber Eis, also wurde Grießbrei mit Eis gekocht. Ob ich das heute noch essen würde?
    Das erste Opfer war unsere Freundschaft … Alle hatten plötzlich zu tun – jeder musste Geld verdienen. Früher hatten wir geglaubt, dass Geld … dass es keinerlei Macht über uns hätte … Doch nun lernten alle den Reiz der grünen Scheinchen schätzen, das war etwas anderes als die sowjetischen Rubel, die nur »Papierschnipsel« genannt wurden. Wir Bücherkinder … Zimmerpflanzen … Wir waren nicht vorbereitet auf das neue Leben, auf das wir doch gewartet hatten. Wir hatten etwas anderes erwartet, nicht das. Wir hatten einen Haufen romantischer Bücher gelesen, doch das Leben stieß uns mit Fußtritten und Kopfnüssen in eine andere Richtung. Statt Wyssozki – der Schlagersänger Kirkorow. Popmusik! Das sagt alles … Vor kurzem haben wir uns bei mir in der Küche versammelt, das kommt nur noch selten vor, und gestritten: Würde Wyssozki für Abramowitsch 14 singen? Die Meinungen gingen auseinander. Die meisten waren überzeugt: Natürlich würde er. Die Frage ist nur – für wie viel?
    Igor? Er ähnelt in meiner Erinnerung Majakowski. Schön und einsam. (Sie schweigt.) Habe ich Ihnen irgendetwas erklärt? Konnte ich das überhaupt?
»Der Basar wurde unsere Universität …«
     
    Viele Jahre sind seitdem vergangen … aber ich frage mich noch immer: Warum? Warum … hat er sich so entschieden … Wir waren befreundet … aber er hat alles allein entschieden … allein … Ja, was sagt man zu einem Menschen, der auf dem Dach steht? Was? In meiner Jugend habe ich auch an Selbstmord gedacht, aber warum – keine Ahnung. Ich liebe meine Mutter … meinen Vater … meinen Bruder … zu Hause ist alles gut … Trotzdem dieser Drang. Irgendwo dort … irgendetwas ist dort … Was? Irgendetwas … es ist dort … Eine ganze Welt, leuchtender, bedeutender als die, in der du lebst, dort geschieht etwas Wichtigeres. Und dort kannst du jenes Geheimnis berühren, auf anderem Weg kannst du es nicht erfahren, rational kommst du da nicht ran. Daher der Wunsch … es mal zu probieren … Auf den Fenstersims zu steigen … vom Balkon zu springen … Aber du willst gar nicht sterben, du willst hinaufsteigen, du möchtest fliegen, dir scheint, du könntest fliegen. Du handelst wie im Traum … wie in einer Ohnmacht … Wenn du wieder zu dir kommst, erinnerst du dich an ein Licht, einen Klang … und daran, dass du dich in diesem Zustand wohlgefühlt hast … viel wohler als hier …
    Unsere Truppe … Ljoschka gehörte dazu … Er ist vor kurzem an einer Überdosis gestorben. Wadim ist in den Neunzigern verschwunden. Er ist ins Büchergeschäft eingestiegen. Es begann als Scherz … eine verrückte Idee … Aber sobald er damit Geld machte, kamen die Schutzgelderpresser, Jungs mit Revolvern. Mal hat er sich freigekauft, mal ist er untergetaucht, hat im Wald unter Bäumen geschlafen. In jenen Jahren wurde nicht mehr geprügelt, da wurde meist getötet. Wo mag er jetzt sein? Es gibt nicht die geringste Spur … die Miliz hat bis heute nichts gefunden … Bestimmt wurde er irgendwo verscharrt. Arkadi ist nach Amerika abgehauen: »Ich lebe lieber in New York unter einer Brücke.« Nur ich und Iljuscha sind noch übrig … Iljuscha hat seine große Liebe geheiratet. Seine Frau hat seine Eigenheiten geduldet, solange Dichter und Maler in Mode waren, aber dann kamen Broker und Buchhalter in Mode. Seine Frau hat ihn verlassen. Er ist in eine schwere Depression gefallen, wenn er auf die Straße geht, bekommt er sofort Panikattacken, zittert vor Angst. Er sitzt zu Hause. Bei seinen Eltern –

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