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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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»Ruhm dem Führer!« Fünfzehn Minuten lang … eine halbe Stunde … Alle drehten sich zueinander um, aber niemand setzte sich als Erster. Alle standen. Ich setzte mich hin. Ganz mechanisch. Zwei Männer in Zivil kamen zu mir. »Genosse, warum sitzen Sie?« Ich wieder aufgesprungen! Bin aufgesprungen, als hätte ich mich verbrüht. In der Pause schaute ich mich die ganze Zeit um. Ich rechnete damit, dass sie gleich kommen und mich verhaften würden … (Pause.)
    Am Morgen war die Haussuchung beendet. Sie befahlen: »Machen Sie sich fertig.« Die Kinderfrau weckte meinen Sohn … Bevor ich ging, konnte ich ihm noch zuflüstern: »Erzähl niemandem von Papa und Mama.« So hat er überlebt. (Er zieht das Diktiergerät näher zu sich heran.) Halten Sie das fest, solange ich noch lebe. »S.i.n.l.« »solange ich noch lebe« – das schreibe ich unter meine Glückwunschkarten. Inzwischen ist allerdings keiner mehr da, dem ich Karten schicken kann … Ich werde oft gefragt: »Warum haben Sie alle geschwiegen?« »So war die Zeit eben.« Ich glaubte, an allem seien Verräter schuld – Jagoda, Jeschow 15 –, aber nicht die Partei. Fünfzig Jahre später kann man leicht urteilen. Kichern … über die alten Dummköpfe … Aber damals lief man eben im Gleichschritt mit allen, doch nun ist keiner von ihnen mehr da …
    … einen Monat in Einzelhaft. Eine Art Steinsarg – am Kopfende breiter, am Fußende schmaler. Ich hatte einen Raben an mein Fenster gewöhnt, ich fütterte ihn immer mit Graupen aus der Suppe. Seitdem ist der Rabe mein Lieblingsvogel. Im Krieg … Das Gefecht ist vorbei. Alles ist still. Die Verwundeten sind weggebracht, nur die Toten liegen noch da. Da lässt sich kein anderer Vogel blicken, nur die Raben.
    … Zum Verhör geholt wurde ich erst nach zwei Wochen. Ob ich gewusst hätte, dass meine Frau eine Schwester im Ausland hat? »Meine Frau ist eine aufrechte Kommunistin.« Auf dem Tisch des Vernehmers lag eine Denunziation, unterschrieben – ich konnte es nicht glauben! – von unserem Nachbarn. Ich erkannte die Schrift. Die Unterschrift. Wir waren Kameraden, kann man sagen. Seit dem Bürgerkrieg. Ein Militär … von hohem Rang … Er war sogar ein wenig verliebt in meine Frau, ich war eifersüchtig auf ihn. Ja, ja … eifersüchtig … Ich liebte meine Frau sehr … meine erste Frau … Der Vernehmer erzählte Einzelheiten von Gesprächen zwischen uns. Da wusste ich, dass ich mich nicht täuschte … ja, das war unser Nachbar … die Gespräche hatten in seinem Beisein stattgefunden … Die Geschichte meiner Frau ist folgende: Sie stammt aus der Gegend von Minsk, sie ist Weißrussin. Nach dem Brester Frieden ging ein Teil dieser Gebiete an Polen. Ihre Eltern blieben dort. Und ihre Schwester. Die Eltern sind bald gestorben, doch die Schwester schrieb uns: »Ich gehe lieber nach Sibirien, als in Polen zu bleiben.« Sie wollte in der Sowjetunion leben. Der Kommunismus war damals sehr populär in Europa. Auf der ganzen Welt. Viele Menschen glaubten an ihn. Nicht nur einfache Menschen, auch die westliche Elite. Schriftsteller: Aragon, Barbusse … Die Oktoberrevolution war »Opium für Intellektuelle«. Das habe ich irgendwo gelesen … Ich lese jetzt viel. (Eine Atempause.) Meine Frau war also ein »Feind« … Deshalb musste eine »konterrevolutionäre Tätigkeit« her … Sie wollten ihr eine »Organisation« anhängen … »terroristischen Untergrund« … »Mit wem traf sich Ihre Frau? … Wem hat sie technische Zeichnungen übergeben?« Was für Zeichnungen! Ich leugnete alles. Sie schlugen mich. Traten mich mit Stiefeln. Die eigenen Leute. Ich hatte ein Parteibuch, und sie hatten ein Parteibuch. Auch meine Frau hatte ein Parteibuch.
    … eine Gemeinschaftszelle … In der Zelle fünfzig Leute. Zur Notdurft wurden wir zweimal am Tag hinausgeführt. Und in der übrigen Zeit? Wie erkläre ich das einer Dame? An der Tür stand ein riesiger Bottich … (Böse.) Versuchen Sie mal, sich da hinzusetzen und vor aller Augen zu scheißen! Wir bekamen Salzhering zu essen und kein Wasser. Fünfzig Leute … Englische Spione … japanische … Ein alter Mann aus einem Dorf, Analphabet … Er saß wegen eines Brandes im Pferdestall. Ein Student wegen eines Witzes … An der Wand hängt ein Stalinbild. Ein Referent hält einen Vortrag über Stalin. Der Chor singt ein Lied über Stalin. Ein Schauspieler rezitiert ein Gedicht über Stalin. Was ist das? Ein Abend zum hundertsten Todestag von Puschkin. (Ich lache,

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