Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Vernunft … Und jetzt – an den Markt. Na schön, aber wenn wir alle satt sind, was dann weiter? Manchmal gehe ich in das Zimmer meiner Enkel – dort ist alles fremd: die Hemden, die Jeans, die Bücher, die Musik, sogar die Zahnbürste ist nicht von uns. Auf den Regalen stehen leere Pepsi- und Coca-Cola-Dosen … Pappbecher von McDonald’s … Wie bei den Papuas! Sie gehen in den Supermarkt wie ins Museum. Bei McDonald’s Geburtstag feiern ist cool! »Opa, wir waren heute bei Pizza Hut!« Das reinste Mekka! Sie fragen mich: »Hast du wirklich an den Kommunismus geglaubt, warum nicht gleich an Humanoide?« Mein Traum war – Friede den Hütten, Krieg den Palästen, sie dagegen möchten Millionäre werden. Manchmal kommen ihre Freunde zu Besuch. Ich höre, worüber sie reden: »Ich lebe lieber in einem ›schwachen‹ Land, aber mit Joghurt und gutem Bier.« »Der Kommunismus ist überholt!« »Russlands Weg ist die Monarchie. Gott schütze den Zaren!« Sie hören Lieder wie »Es wird alles wieder, Herr Leutnant Golyzin, den Kommissaren, den zahlen wir’s heim«. Und ich lebe noch … ich bin noch da … Tatsächlich … Ich bin doch nicht verrückt … (Er blickt zu seinem Enkel. Der schweigt.) Im Laden liegen hundert Sorten Wurst, aber glückliche Menschen gibt es keine. Ich sehe keine Menschen mit glühenden Augen.
Ein Witz, den der Enkel erzählt hat:
»Eine spiritistische Sitzung. Ein Professor und ein alter Bolschewik. Der Professor: ›In die Idee des Kommunismus hat sich von Anfang an ein Fehler eingeschlichen. Erinnern Sie sich an das Lied: ‘Unsere Lokomotive fliegt voran, in der Kommune hält sie an …’ Der alte Bolschewik: ›Natürlich erinnere ich mich. Aber wo ist der Fehler?‹ Der Professor: ›Lokomotiven können nicht fliegen …‹ «
Zuerst wurde meine Frau verhaftet … Sie ist ins Theater gegangen und nicht wieder nach Hause gekommen. Ich komme von der Arbeit – mein Sohn schläft mit dem Kater auf dem Läufer im Flur. Er hat auf seine Mama gewartet und gewartet und ist eingeschlafen. Meine Frau hat in der Schuhfabrik gearbeitet. Ein roter Ingenieur. »Es ist etwas Merkwürdiges im Gange«, hatte sie gesagt. »Alle meine Freunde sind verhaftet worden. Bestimmt irgendein Verrat …« »Na, wir beide tragen keine Schuld, uns wird man nicht verhaften.« Davon war ich überzeugt … Absolut überzeugt. Aufrichtig! Ich war erst Leninist, dann Stalinist. Bis 1937 war ich Stalinist. Ich habe an Stalin geglaubt. Ich glaubte alles, was Stalin sagte und tat. Ja … der große … der geniale … der Führer aller Zeiten und Völker. Selbst als Bucharin, Tuchatschewski und Blücher zu Volksfeinden erklärt wurden, habe ich ihm geglaubt. Ich hielt mich an einem rettenden Gedanken fest … der war naiv … dumm … Das ist mir heute selber klar … Ich dachte: Stalin wird hintergangen, ganz oben sind Verräter eingedrungen. Die Partei wird das klären. Und nun war meine Frau verhaftet worden … ein ehrlicher und treuer Kämpfer der Partei.
Drei Tage später kamen sie mich holen … Als Erstes schnüffelten sie im Ofen: ob es nach Rauch roch, ob ich vielleicht etwas verbrannt hatte. Sie waren zu dritt. Einer lief herum und suchte sich Sachen aus: »Das brauchen Sie nicht mehr.« Er nahm die Wanduhr ab. Das erschütterte mich … das hatte ich nicht erwartet … Und zugleich lag darin etwas Menschliches, und das machte mir Hoffnung. Diese menschliche Niedertracht … Ja-a-a … Diese Leute hatten also Gefühle … Die Haussuchung dauerte von zwei Uhr nachts bis zum Morgen. Es waren sehr viele Bücher im Haus, sie blätterten in jedem Buch. Tasteten die Kleider ab. Schlitzten Kissen auf … Ich hatte genug Zeit zum Nachdenken. Ich versuchte mich zu erinnern … fieberhaft … Die Verhaftungen hatten bereits Massencharakter. Jeden Tag wurde irgendwer abgeholt. Eine ziemlich beängstigende Atmosphäre. Jemand wurde verhaftet, und alle um ihn herum schwiegen. Fragen war sinnlos. Im Gefängnis erklärte mir der Vernehmer beim ersten Verhör: »Sie sind schon deshalb schuldig, weil Sie Ihre Frau nicht gemeldet haben.« Aber das war schon im Gefängnis … Bei der Verhaftung aber versuchte ich mich zu erinnern … ging im Kopf alles durch. Alles … Mir fiel die letzte Parteikonferenz ein. Wie das Grußwort an Genossen Stalin verlesen wurde und der ganze Saal aufstand und in Ovationen ausbrach: »Ruhm dem Genossen Stalin – dem Organisator und geistigen Vater unserer Siege!« »Ruhm Stalin!«
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