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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Rotarmist. Wir bekamen Wickelgamaschen und einen roten Stern für die Mütze. Budjonny-Mützen gab es nicht, aber immerhin rote Sterne. Was wäre die Rote Armee ohne roten Stern? Wir bekamen Gewehre. Und wir fühlten uns als Verteidiger der Revolution. Ringsum – Hunger, Epidemien. Rückfalltyphus … Bauchtyphus … Fleckfieber … Aber wir waren glücklich.
    … Aus einem zerstörten Gutshaus hat jemand ein Klavier herausgeschleppt … Es steht im Garten, wird im Regen nass. Die Hirten treiben ihre Kühe näher heran und spielen mit Knüppeln darauf. Das Gut haben sie im Suff abgebrannt. Und geplündert. Aber welcher Mushik braucht schon ein Klavier?
    … haben wir die Kirche gesprengt. Noch heute habe ich die Schreie der alten Frauen im Ohr: »Bitte, Kinder, tut das nicht!« Angefleht haben sie uns. Unsere Beine umklammert. Zweihundert Jahre hatte die Kirche gestanden. Ein durch Gebete gesegneter Ort, wie man so sagt. An die Stelle der Kirche wurde eine öffentliche Toilette gebaut. Die Priester mussten dort saubermachen. Die Scheiße wegputzen. Heute … natürlich … da verstehe ich … Aber damals … da fand ich das lustig …
    … auf dem Feld lagen unsere Kameraden … Auf Stirn und Brust waren Sterne aus der Haut geschnitten. Rote Sterne. Die Bäuche aufgeschlitzt und mit Erde gefüllt: Ihr wolltet Boden 14 haben – da habt ihr! Was wir fühlten – Tod oder Sieg! Mögen wir sterben, aber wir wissen, wofür wir sterben.
    … am Fluss lagen mit Bajonetten durchbohrte weiße Offiziere. Ganz schwarz waren sie geworden in der Sonne. »Ihre Wohlgeboren …« In den Bäuchen steckten Schulterstücke … die Bäuche waren vollgestopft mit Schulterstücken … Sie taten uns nicht leid! Ich habe so viele Tote gesehen, genauso viele wie Lebende …
     
    » Heute tun einem alle leid, die Weißen genauso wie die Roten. Mir tun sie leid.«
     
    Ihnen tun sie leid … Sie tun Ihnen leid? (Ich hatte das Gefühl, dass unser Gespräch an dieser Stelle zu Ende sein könnte.) Ja, ja … natürlich … »Allgemeinmenschliche Werte« … »abstrakter Humanismus« … Ich sehe ja fern, lese Zeitung … Für uns war Barmherzigkeit ein Popenwort. Schlagt die weißen Schurken! Es lebe die revolutionäre Ordnung! Die Losung der ersten Revolutionsjahre: Mit eiserner Hand treiben wir die Menschheit ins Glück! Wenn es die Partei sagte – ich vertraue der Partei! Ich glaube.
    Die Stadt Orsk bei Orenburg. Tag und Nacht Güterzüge mit Kulakenfamilien. Auf dem Weg nach Sibirien. Wir bewachen die Bahnstation. Ich öffne einen Waggon: In einer Ecke hängt ein halbnackter Mann an einem Gürtel. Eine Mutter wiegt ein Kind auf den Armen, ein älterer Junge sitzt daneben. Mit den Händen isst er seinen eigenen Kot, als wäre es Brei. »Mach zu!«, schreit der Kommissar mich an. »Das sind Kulakenschweine! Sie taugen nicht für das neue Leben!« Die Zukunft … sie sollte doch schön sein … Später würde es schön sein … Ja, ich habe geglaubt! (Er schreit fast.) Wir glaubten an ein schönes Leben. Eine Utopie … das war eine Utopie … Und ihr? Ihr habt eure eigene Utopie – den Markt. Das Marktparadies. Der Markt wird alle glücklich machen! Eine Schimäre! Auf den Straßen laufen Gangster in weinroten Jacketts und mit Goldketten bis zum Bauch herum. Ein Karikatur-Kapitalismus, wie auf den Abbildungen in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil . Eine Parodie! Anstelle der Diktatur des Proletariats das Dschungelgesetz: Beiß jeden, der schwächer ist als du, und verbeuge dich vor dem, der stärker ist als du. Das älteste Gesetz der Welt … ( Ein Hustenanfall. Atempause.) Mein Sohn trug eine Budjonny-Mütze mit rotem Stern … Das war in seiner Kindheit sein liebstes Geburtstagsgeschenk. Ich gehe seit langem nicht mehr in Geschäfte. Gibt es noch Budjonny-Mützen? Sie wurden lange getragen. Noch unter Chruschtschow. Was ist denn jetzt Mode? (Er versucht zu lächeln.) Ich bin zurückgeblieben … natürlich … Ich bin schon uralt … Mein einziger Sohn … er ist tot … Ich verbringe den Rest meines Lebens mit meiner Schwiegertochter und den Enkeln. Mein Sohn war Historiker und überzeugter Kommunist. Und die Enkel? (Spöttisch:) Die Enkel lesen den Dalai Lama. Statt des Kapitals lesen sie das Mahabharata . Die Kabbala … Heute glaubt jeder an etwas anderes. Ja, ja … so ist das heute … Der Mensch möchte immer an irgendetwas glauben. An Gott oder an den technischen Fortschritt. An die Chemie, an die Polymere, an die kosmische

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