Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
irgendwelche Labyrinthe … das Gefängnis hatte eine Menge Keller! Das hatte ich gar nicht geahnt. Die Gefangenen wurden so geführt, dass keiner einen anderen sehen konnte. Und erkennen. Wenn einem jemand entgegenkam, stieß der Bewacher einen Pfiff aus: »Visage zur Wand!« Aber ich war bereits erfahren. Ich schaute heimlich. So begegnete ich meinem Chef von den Lehrgängen für rote Kommandeure. Und einem ehemaligen Professor von der Parteihochschule … ( Er schweigt.) Werchowzew und ich sprachen offen miteinander: »Das sind Verbrecher! Sie richten die Sowjetmacht zugrunde. Sie werden sich dafür verantworten.« Einige Male wurde er von einer Frau verhört. »Wenn sie mich foltern, wird sie richtig schön. Verstehst du, dann wird sie schön.« Ein sensibler Mensch. Von ihm erfuhr ich, dass Stalin in seiner Jugend Gedichte geschrieben hat. (Er schließt die Augen.) Noch heute wache ich manchmal in kalten Schweiß gebadet auf: Auch ich hätte zum Dienst beim NKWD geschickt werden können. Und ich wäre gegangen. Ich hatte ein Parteibuch in der Tasche. Mein rotes Parteibuch.
Es klingelt. Die Krankenschwester. Sie misst seinen Blutdruck. Gibt ihm eine Spritze. Währenddessen geht unser Gespräch weiter, wenn auch etwas stockend.
… Vor einer Weile kam mir der Gedanke: Der Sozialismus hat keine Lösung für das Problem des Todes. Des Alters. Für den metaphysischen Sinn des Lebens. Das lässt er links liegen. Nur in der Religion gibt es Antworten darauf. Ja-a-a … 1937 hätte man mich für solche Reden …
… Kennen Sie das Buch Der Amphibienmensch von Alexander Beljajew? Ein genialer Wissenschaftler will seinen Sohn glücklich machen und verwandelt ihn in einen Amphibienmenschen. Doch der Sohn fühlt sich bald einsam im Ozean. Er möchte sein wie alle: an Land leben, ein normales Mädchen lieben. Aber das ist ihm verwehrt. Und er stirbt. Dabei hatte sein Vater geglaubt, er wäre in das große Geheimnis eingedrungen … Er wäre Gott! Das ist sie, die Antwort auf alle großen Utopisten!
… Die Idee war wunderbar! Aber was soll man mit dem Menschen machen? Der Mensch hat sich seit dem alten Rom nicht geändert …
Die Krankenschwester ist gegangen. Er schließt die Augen.
Warten Sie … ich will doch zu Ende erzählen … Für eine Stunde reicht meine Kraft noch … Im Gefängnis habe ich ein knappes Jahr gesessen. Ich stellte mich schon auf einen Prozess ein. Auf den Transport. Ich wunderte mich: Warum lassen sie sich mit mir so viel Zeit? Heute glaube ich, sie hatten gar keine Logik. Tausende Fälle … Ein Chaos … Nach einem Jahr hatte ich einen neuen Vernehmer … Mein Fall ging in die Revision. Ich wurde entlassen, sämtliche Anschuldigungen wurden fallengelassen. Das Ganze war also ein Irrtum gewesen. Die Partei glaubte mir! Stalin war ein großer Regisseur … Zu diesem Zeitpunkt hatte er gerade den »blutigen Gnom« abgelöst, Volkskommissar Jeschow. Er wurde verurteilt. Erschossen. Rehabilitationen setzten ein. Das Volk atmete auf: Stalin hat die Wahrheit erfahren … Doch das war nur eine Atempause vor neuem Blutvergießen … Ein Spiel! Aber alle glaubten daran. Ich auch. Ich verabschiedete mich von Werchowzew … Er zeigte mir seine gebrochenen Finger. »Ich bin schon neunzehn Monate und sieben Tage hier. Mich wird niemand mehr rauslassen. Aus Angst.« Nikolai Werchowzew … Parteimitglied seit 1924 … wurde 1941 erschossen, als die Deutschen immer näher rückten. Die NKWD -Leute erschossen alle Gefangenen, die nicht rechtzeitig evakuiert worden waren. Die Kriminellen ließen sie frei, sämtliche »Politischen« aber wurden als Verräter liquidiert. Als die Deutschen in die Stadt kamen, öffneten sie die Gefängnistore – drinnen lag ein Berg Leichen. Die Einwohner der Stadt wurden zum Gefängnis getrieben, solange die Leichen noch nicht verwesten – damit sie sich die Sowjetmacht anschauten.
Meinen Sohn habe ich bei fremden Menschen wiedergefunden, die Kinderfrau hatte ihn aufs Land gebracht. Er stotterte und hatte Angst im Dunkeln. Nun lebten wir beide zusammen. Ich versuchte, etwas über meine Frau in Erfahrung zu bringen. Und bemühte mich gleichzeitig um meine Wiederaufnahme in die Partei. Darum, mein Parteibuch zurückzubekommen. Dann, Silvester … Der Tannenbaum ist geschmückt. Mein Sohn und ich warten auf die Gäste. Es klingelt. Ich mache auf. Draußen steht eine schlechtgekleidete Frau. »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Gruß von Ihrer Frau auszurichten.«
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