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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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doch er lacht nicht.) Ein Kraftfahrer saß, weil er Stalin ähnlich sah. Er sah ihm tatsächlich ähnlich. Der Leiter einer Wäscherei, ein parteiloser Friseur, ein Schleifer … Überwiegend einfache Menschen. Aber auch ein Gelehrter, ein Folkloreforscher. Der erzählte uns nachts Märchen … Märchen für Kinder … Und alle hörten zu. Den Folkloreforscher hatte die eigene Mutter denunziert. Eine alte Bolschewikin. Nur ein einziges Mal hat sie ihm Papirossy gebracht, bevor er auf Transport ging … Ja-a-a … Ein alter Sozialrevolutionär saß mit uns zusammen, der freute sich: »Ich bin ja so glücklich, dass auch ihr Kommunisten hier sitzt und genau wie ich nichts begreift.« Ein Konterrevolutionär! Ich dachte, es gäbe die Sowjetmacht nicht mehr. Und Stalin auch nicht.
     
    Ein Witz, den der Enkel erzählt hat:
    »Ein Bahnhof … Hunderte Menschen. Ein Mann in einer Lederjacke sucht verzweifelt jemanden. Endlich sieht er einen anderen Mann in einer Lederjacke und spricht ihn an: ›Genosse, bist du Parteimitglied oder parteilos?‹ ›Parteimitglied.‹ ›Dann sag mir, wo ist hier das Klo?‹«
     
    Sie hatten mir alles abgenommen: Gürtel, Schal, die Schnürsenkel aus den Schuhen gezogen, aber umbringen konnte man sich trotzdem. Ich hatte den Gedanken. Ja, ja … den hatte ich … Mich mit meiner Hose zu erdrosseln oder mit dem Unterhosengummi. Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Alles wurde aus mir herausgepresst wie aus einem Regenwurm. Sie hängten mich an Haken auf. Mittelalter! Alles läuft aus dir raus, du hast deinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. Überall fließt es aus dir heraus … Diesen Schmerz auszuhalten … Diese Scham! Lieber sterben … (Er schweigt lange.) Im Gefängnis traf ich einen alten Kameraden … Nikolai Werchowzew, Parteimitglied seit 1924. Er unterrichtete an der Arbeiterfakultät. Alle kannten dort einander … ein enger Kreis … Jemand las laut aus der Prawda vor, darin stand eine Notiz: Im Büro des ZK gab es eine Anhörung zur Befruchtung von Stuten. Na, da hat er gewitzelt: Was für ein ZK , hat nichts anderes zu tun, als sich um die Befruchtung von Stuten zu kümmern. Am Vormittag hatte er das gesagt, und in der Nacht wurde er schon verhaftet. Sie klemmten ihm die Finger mit einer Tür ein, brachen ihm die Finger wie Bleistifte. Stundenlang musste er eine Gasmaske tragen. (Er schweigt.) Ich weiß nicht, wie man heute davon erzählen soll … Das ist Barbarei. Erniedrigend. Du bist ein Stück Fleisch … liegst in deinem Urin … Werchowzew war an einen sadistischen Vernehmer geraten. Einen jungen Sadisten. Sie waren nicht alle Sadisten … Von oben bekamen sie Vorgaben, soundso viele Feinde – im Monat, im Jahr. Sie lösten einander ab, tranken Tee, riefen zu Hause an, flirteten mit den Krankenschwestern, die gerufen wurden, wenn jemand bei den Folterungen das Bewusstsein verlor. Für sie war das nichts als Dienst … ihre Schicht … Doch für dich war das ganze Leben aus den Fugen. Tja, solche Dinge … Der Vernehmer, der meinen Fall bearbeitete, war früher Schuldirektor gewesen, und er versicherte mir: »Sie sind sehr naiv. Wir knallen Sie einfach ab und setzen ein Protokoll auf – auf der Flucht erschossen. Sie wissen doch, was Gorki gesagt hat: Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet.« »Ich bin kein Feind.« »Verstehen Sie doch: Harmlos ist für uns nur derjenige, der Reue bekennt, der zerstört ist.« Wir führten Diskussionen über dieses Thema … Der zweite Vernehmer war Berufsoffizier … Ich merkte, dass er zu faul war, all diese Papiere auszufüllen. Sie schrieben die ganze Zeit irgendetwas. Einmal hat er mir eine Papirossa gegeben. Die Menschen saßen lange. Monate. Zwischen Henkern und Opfern entstanden menschliche … nein, menschlich kann man das nicht nennen, aber doch Beziehungen. Aber das eine schloss das andere nicht aus … »Unterschreiben Sie.« Ich lese das Protokoll. »Das habe ich nicht gesagt.« Sie schlagen mich. Später wurden sie alle selbst erschossen. Oder ins Lager geschickt.
    Eines Morgens … Die Zellentür geht auf. »Raustreten!« Ich bin nur im Hemd. Ich will mich anziehen. »Nein!« Sie führen mich in einen Keller … Dort wartet schon der Vernehmer mit dem Papier: »Unterschreiben Sie – ja oder nein?« Ich weigere mich. »Dann an die Wand!« Bumm! Ein Schuss knapp über den Kopf … »Na, was ist, unterschreiben Sie?« Bumm! Und das dreimal. Dann führten sie mich zurück, durch

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