Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
›russisches Volk‹.«
»Der Krieg rechtfertigt alles … ja, das hat er …«
»Und dann war er da, der Sieg! Der Sieg! Den ganzen Krieg über hatten sich die Leute ausgemalt, wie schön das Leben nach dem Krieg sein würde. Zwei, drei Tage lang wurde gefeiert. Aber dann wollte man etwas zu essen haben, etwas zum Anziehen. Wollte leben. Aber es gab nichts. Alle liefen in deutscher Uniform herum. Erwachsene wie Kinder. Die Sachen wurden immer wieder umgearbeitet. Brot gab es nur auf Karten, die Schlangen waren kilometerlang. Verbitterung hing in der Luft. Man konnte einfach so getötet werden.«
»Ich erinnere mich … den ganzen Tag ein Gepolter … Invaliden fuhren auf selbstgebastelten Wägelchen auf Kugellagern herum. Rollten über die gepflasterten Straßen. Sie lebten in Kellern und Souterrains. Tranken, wälzten sich im Straßengraben. Bettelten. Tauschten ihre Orden gegen Wodka. Sie kamen zur Brotschlange gefahren und bettelten um Geld für Brot. In der Schlange standen nur erschöpfte Frauen. ›Du lebst noch. Mein Mann liegt im Grab.‹ Sie verscheuchten die Invaliden. Als es allen ein wenig besser ging, wurden die Invaliden noch mehr verachtet. Niemand wollte an den Krieg zurückdenken. Alle waren mit dem Leben beschäftigt, nicht mehr mit dem Krieg. Eines Tages wurden sämtliche Invaliden aus der Stadt geschafft. Milizionäre fingen sie ein und warfen sie auf Autos wie Ferkel. Ein Gebrüll … ein Gefluche … ein Gekreisch …«
»Bei uns in der Stadt gab es ein Heim für Invaliden. Junge Männer ohne Arme, ohne Beine. Allesamt mit Orden. Man durfte sie zu sich nehmen … ganz offiziell … Die Weiber sehnten sich nach männlicher Zärtlichkeit und rissen sich darum, jemanden zu sich zu nehmen – mit Bollerwagen und Kinderwagen holten sie sich Invaliden nach Hause. Sie wünschten sich, dass es in ihrem Haus nach Mann roch, dass wieder ein Männerhemd auf der Leine hing. Schon bald brachten sie die Invaliden wieder zurück … Das war schließlich kein Spielzeug … und kein Film … Versuch mal, dieses Stück Mann zu lieben. Der böse ist und gekränkt – weil er weiß, dass er verraten wurde.«
»Dieser Tag des Sieges …« 10
Geschichte einer Frau
Ich will von meiner Liebe erzählen … Die Deutschen kamen mit großen Autos in unser Dorf, man sah nur oben die Helme blitzen. Junge, fröhliche Burschen. Haben mit den Mädels geschäkert. In der ersten Zeit haben sie alles bezahlt: ein Huhn, Eier. Wenn ich das erzähle, glaubt mir niemand. Aber das ist die reine Wahrheit! Sie haben mit deutscher Mark bezahlt … Was scherte mich der Krieg? Ich hatte meine Liebe! Ich hatte nur eines im Kopf: Wann sehe ich ihn wieder? Er kam, setzte sich auf die Bank und schaute mich immerzu an. Lächelte. »Warum lächelst du?« »Nur so.« Vor dem Krieg waren wir zusammen zur Schule gegangen. Sein Vater war an Tuberkulose gestorben, und sein Großvater war entkulakisiert und mit der ganzen Familie nach Sibirien verbannt worden. Er erzählte oft, wie seine Mutter ihn als Mädchen verkleidet und ihm eingeschärft hatte: Wenn sie abgeholt werden sollten, solle er zur Bahnstation laufen, in einen Zug steigen und wegfahren. Iwan hieß er … Mich nannte er »meine Ljubotschka« … Nur so … Unser Glück stand unter keinem guten Stern. Die Deutschen kamen, und bald kehrte sein Großvater zurück, voller Zorn natürlich. Ganz allein. Seine gesamte Familie hatte er in der Fremde begraben. Er erzählte, wie man sie über die sibirischen Flüsse transportiert hatte. Und irgendwo in der Taiga abgeladen. Für zwanzig, dreißig Leute bekamen sie eine Säge und eine Axt. Sie aßen Blätter … kauten Baumrinde … Der Großvater hasste die Kommunisten! Lenin und Stalin! Vom ersten Tag an nahm er Rache. Er zeigte den Deutschen: Der da ist Kommunist … und der … Diese Männer wurden abgeholt … Ich habe den Krieg lange nicht verstanden …
Wir wuschen am Fluss zusammen ein Pferd. Die Sonne schien! Wir trockneten zusammen Heu, und das duftete so … Früher hatte ich das nicht gekannt – hatte nicht so empfunden … Ohne die Liebe war ich ein einfaches Mädchen gewesen, ein ganz gewöhnliches Mädchen – bis ich die Liebe kennenlernte. Ich hatte einen prophetischen Traum … Unser Fluss ist nicht groß, doch ich bin darin am Ertrinken, die Unterwasserströmung zieht mich hinab, ich bin schon unter Wasser. Dann hebt mich irgendwer hoch, ich weiß nicht, wie, stößt mich hinauf, aber
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