S.E.C.R.E.T.
verkuppeln – das natürlich erst, nachdem ich meine Schritte hinter mich gebracht hatte. Gerade dachte ich über ein Doppeldate nach, als Dell mich ertappte, wie ich in der Kühlkammer stand und vor mich hin pfiff. Oft tat ich, als suchte ich dort etwas, wollte mich aber eigentlich nur abkühlen.
»Worüber bist du denn so glücklich, Mädchen?«, lispelte sie.
»Das Leben, Dell. Ist doch eine tolle Sache, oder nicht?«
»Nicht immer, nein.«
»Ich finde es großartig«, sagte ich.
»Na, das ist ja schön für dich«, antwortete sie. Ich ging ins Café hinüber. Sie blieb im Kühlraum zurück und schaufelte Eiscreme für eine kleine Geburtstagsgesellschaft in Eisschalen.
Mein Paar, meine beiden Lieblings-Lover waren seit dem Nachmittag, als Pauline ihr Tagebuch fallen gelassen hatte, nicht mehr gekommen. Aber die Gedanken an ihre Zärtlichkeiten wurden jetzt durch meine eigenen Erinnerungen ersetzt, die immer wieder vor meinem geistigen Auge auftauchten. Ich erinnerte mich an das schöne Gesicht des Mannes zwischen meinen Schenkeln, an seinen hungrigen Blick, ruhig, zugleich draufgängerisch. Ich dachte an seine Finger, wie sie genau die richtigen Stellen berührten, wie seine festen Hände mich geführt und bewegt hatten, leicht wie eine Feder, weich wie Samt …
»Cassie, Herrgott noch mal!«, rief Dell und schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Du bist mit deinen Gedanken ständig woanders.«
Ich wäre vor Schreck fast aus meinen langweiligen, braunen Latschen gekippt. »Tut mir leid.«
»Tisch elf möchte zahlen, und die Neun braucht noch Kaffee.«
»In Ordnung«, sagte ich und bemerkte, dass die beiden jungen Frauen von Tisch neun mich ausdruckslos ansahen.
Nachdem ich bedient hatte, hing ich wieder meinen Gedanken nach. Dell hatte sich geirrt. Ich hatte nicht vor mich hin geträumt. Ich hatte mich erinnert . All das war tatsächlich geschehen. Ich rief mir Dinge ins Gedächtnis, die mir widerfahren waren, meinem Körper. Ich schüttelte energisch den Kopf. Wenn ich mich so schon nach Schritt eins fühlte – wie würde es sein, wenn ich noch ein paar weitere Fantasien durchlebt hatte?
Eines Tages Anfang April, an meinem einzigen freien Tag der Woche, fand ich einen cremefarbenen Umschlag im Briefkasten. Es war keine Briefmarke darauf. Anscheinend war er persönlich von einem Boten gebracht worden. Plötzlich klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich blickte die Straße hinab. Niemand. Ich riss den Umschlag auf. Die Karte kündigte Schritt zwei an, mit dem dazugehörigen Oberbegriff Mut . Außerdem fand ich eine einzelne Eintrittskarte für ein Jazzkonzert im Halo , einer Bar auf dem Dach des Saint Hotel – ein neues kleines Luxushotel, das bei dem diesjährigen Festival seinen Einstand gab. Ich war zwar kein großer Musikexperte, wusste aber, dass es schwer war, diese Tickets zu ergattern. Ich warf einen Blick auf das Datum. Heute Abend! Das kam viel zu plötzlich! Ich hatte doch gar nichts anzuziehen!
Typisch. Ich ersann Ausflüchte, eine nach der anderen, immer mehr, bis meine Angst so groß war, dass sie jedes Abenteuer im Keim erstickte. So war’s bei mir schon immer gewesen. Irgendwie kam es mir leichter vor, einem Fremden meine Wohnungstür zu öffnen, als mich in die Hitze des Abends hinauszuwagen, ganz allein eine Bar zu betreten, mich dort hinzusetzen und zu warten … worauf? Was sollte ich während des Wartens tun? Lesen? Vielleicht waren die drei oder vier Wochen zwischen den Fantasien einfach zu lang. Ich hatte keinen Mut mehr. Moment. Genau darum ging es beim zweiten Schritt. Mut . Ich beschloss, mich darauf zu konzentrieren, offen zu bleiben. Ich wollte mich bewusst anders verhalten als sonst und das notorische Nein, das ich auf den Lippen trug, herunterschlucken.
So kam es, dass ich ein paar Stunden später zuerst eine Reihe enger, schwarzer Kleider anprobierte und kurz darauf eine ganze Weile stillsitzen musste, weil eine rote Lackschicht auf meine Finger-und Zehennägel aufgetragen wurde. Die ganze Zeit über sagte ich mir, dass ich immer noch einen Rückzieher machen konnte, wenn ich wollte. Ich musste nicht unbedingt alles mitmachen. Ich konnte es mir jederzeit anders überlegen.
Dann war ich wieder in meiner Wohnung, und der Abend rückte in bedrohliche Nähe. Was war so schwer daran, allein auszugehen? Ich hatte mich nie dazu durchringen können, sondern lieh mir lieber eine DVD aus, statt mich ohne Begleitung in ein dunkles Kino zu setzen. Aber es war gar
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