See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
beerdigt wurde, kam ihr einfach nicht richtig vor. Aber natürlich kam Jared nicht.
Nachdem Ellens Sarg in das Grab hinabgelassen worden war und der Reverend ein paar tröstende Worte gesprochen hatte, bedankte sich Tess bei Rosie für ihr Kommen und lud sie noch in Ellens Haus ein. Die alte Dame wollte aber nicht länger bleiben, sondern gleich wieder den Rückweg nach Portland antreten. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sie sich.
Anschließend wandte sich Tess an Reverend Cole.
»Ich hätte nicht gedacht, dass niemand aus Shadow Lake von Tante Ellen Abschied nehmen will«, sagte sie mit unverhohlenem Schmerz in der Stimme. »Trotz allem, was in den letzten Jahren passiert ist, hat sie es nicht verdient, so behandelt zu werden.«
Der Reverend legte ihr die Hand auf den Arm und lächelte ihr verständnisvoll zu. »Seit dem Mord hat sich viel verändert, Tess. Ihre Tante hatte es sicherlich nicht leicht, aber die Schuld liegt nicht nur bei den anderen. Ich fürchte, auch Ellen hat viele Fehler gemacht.«
»Ich weiß.« Tess nickte. »Ich habe es ja am eigenen Leib erfahren, wie schwierig der Umgang mit ihr geworden war. Aber dass keiner aus dem Ort hergekommen ist …« Sie vollendete den Satz nicht.
Kurz nach Joannas Tod hatte die Hexenjagd begonnen. Alle Bewohner von Shadow Lake waren davon überzeugt, dass Jared Joanna im Streit erstochen hatte und dann geflüchtet war, um seiner Strafe zu entgehen. Am Anfang wurde nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, Ellen hätte ihrem Sohn zur Flucht verholfen. Aber je länger Jared verschwunden war, umso heftiger wurden die Anfeindungen. Selbst Tess war ab und zu verdächtigt worden, an Joannas Tod beteiligt gewesen zu sein.
Ellen hatte nie geglaubt, dass ihr Sohn Joanna getötet hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass irgendein Unbekannter nicht nur Joanna, sondern auch Jared umgebracht hatte und seine Leiche verschwinden ließ. Dabei hatte sie die unglaublichsten Verschwörungstheorien entwickelt und sich immer weiter hineingesteigert. Natürlich war nach dem Mord die komplette Umgebung des Sees abgesucht worden, allerdings ohne Erfolg. Jared hatte man nicht gefunden. Trotzdem hatte Ellen nicht locker gelassen.
Tess zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings recht gequält ausfiel. »Sie hat es mir nie verziehen, dass ich es zumindest für möglich gehalten habe, Jared könnte doch der Täter gewesen sein«, berichtete sie leise. »Verstehen Sie mich richtig«, fügte sie schnell hinzu, »ich glaube nicht, dass Jared ein bösartiger Mensch war, überhaupt nicht. Aber ich kannte ihn so gut wie sonst kaum jemand. Ich weiß, wie aufbrausend er manchmal sein konnte, und wenn er sich wirklich über etwas aufgeregt hat …« Sie biss sich auf die Unterlippe und seufzte.
»Nun«, begann Reverend Cole. Er schien seine Worte genau abzuwägen, bevor er weitersprach. »Ich denke, Sie sollten versuchen, Ihren Frieden mit Ihrer Tante zu machen, Tess. Versuchen Sie, ihr ihre Fehler zu verzeihen. Immerhin hat sie das Schlimmste durchgemacht, das einer Mutter passieren kann. Sie hat ihr Kind verloren, auf welche Weise auch immer.«
Tess nickte. »Ich weiß. Ich wünschte nur, ich hätte mich vor ihrem Tod noch mit ihr aussprechen können. Es kam alles so plötzlich.«
»Ich bin mir sicher, tief in ihrem Herzen hat Ihnen Ellen nichts nachgetragen«, gab der Reverend mit mildem Lächeln zurück. Nachdem er ihr noch versprochen hatte, dass sie sich mit allen Problemen an ihn wenden könne, verabschiedete sich Tess und verließ den Friedhof.
Als sie über den Parkplatz auf ihren Wagen zulief, dachte sie noch einmal über das nach, was sie gerade besprochen hatten. Es stimmte, dachte sie. Tante Ellen hatte wirklich das Schlimmste durchgemacht. Aber in einem Punkt hatte der Reverend sich geirrt: Das Schlimmste war nicht, dass ihr Sohn entweder tot war oder sich eines Mordes schuldig gemacht hatte. Das Schlimmste an allem war die Ungewissheit.
6. Kapitel
Abgehetzt betrat Ryan MacIntyre die Wohnung seiner Mutter Diane in Cambridge. Er lehnte den Stapel Umzugskartons, den er mitgebracht hatte, neben der Tür an die Wand und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon kurz vor zwei. Er unterdrückte einen Fluch. Eigentlich hatte er sich heute den ganzen Tag für sein Vorhaben reservieren wollen, aber er hatte am Morgen noch einen Termin bei einem wichtigen Kunden in der Innenstadt von Boston gehabt, der sich viel länger hingezogen hatte als
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