See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
hatte, dass sich Susannah das Leben genommen hatte.
Bei dem Gedanken daran schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Ausgerechnet seine kleine Schwester Susannah, die immer so lebenslustig und fröhlich gewesen war, hatte ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt – und das gerade einmal mit zweiundzwanzig Jahren. In seine Trauer hatte sich Wut über ihre egoistische Tat gemischt. Warum hatte sie nur an sich selbst gedacht? War es ihr egal gewesen, wie es ihm dabei ging? Und scherte es sie nicht, wie ihre Mutter damit fertig werden sollte?
Diane hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt, als sie vom Tod ihrer einzigen Tochter erfahren hatte. Danach hatte sich ihre Krankheit massiv verschlimmert. Ryan vermutete, dass sie durch den schweren Schicksalsschlag ihren Lebenswillen verloren hatte. Seine eigenen Schuldgefühle verdrängte er so gut wie möglich, auch wenn er sich nicht nur einmal gefragt hatte, welchen Anteil er am Selbstmord seiner Schwester trug. Vielleicht hätte er sich einfach nur ein bisschen mehr um sie kümmern müssen, anstatt sich nur seiner eigenen Karriere zu widmen.
Er schob den Gedanken schnell beiseite und dachte wieder an seine Mutter. Vor ein paar Wochen war es ihrer Vergesslichkeit so schlimm geworden, dass es unverantwortlich gewesen wäre, sie weiter allein wohnen zu lassen. Als Ryan ein Platz für sie in einem guten Pflegeheim angeboten worden war, hatte er deshalb sofort zugestimmt. Vor vier Wochen war Diane umgezogen. Sie hatte nur wenige persönliche Gegenstände in das Heim mitgenommen, vor allem Erinnerungsstücke an alte Zeiten. Die meisten Sachen waren in dem Apartment in Cambridge zurückgeblieben.
Seit dem Umzug hatte Ryan das Ausräumen ihrer Wohnung immer wieder vor sich hergeschoben. Es war ihm ganz recht gewesen, dass im Büro zu viel zu tun gewesen war, um auch noch Zeit für das Entrümpeln zu finden. Aber jetzt war er fest entschlossen, endlich den Anfang zu machen.
Er faltete einen der großen Umzugskartons, die er mitgebracht hatte, auseinander und begann, Dianes Bücher hineinzulegen. Außer den paar Erinnerungsstücken, die er selbst behalten wollte, sollte alles an karitative Einrichtungen gehen. Während er ein Regalfach nach dem anderen leerräumte, ging ihm Susannahs Selbstmord einfach nicht aus dem Kopf. Es passte irgendwie nicht zu ihr. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie geschrieben, dass sie sich einsam und von allen allein gelassen fühlte und dass ihr Leben keinen Sinn mehr hätte. Zuerst hatte Ryan nicht geglaubt, dass sie den Brief wirklich selbst geschrieben hatte, aber ein Gutachten hatte das ohne Zweifel bewiesen. Trotzdem brachte er die Stimme in seinem Kopf, die ihm immer wieder sagte, dass irgendetwas nicht richtig sein konnte, nicht völlig zum Schweigen.
Außerdem fragte er sich, welche Bedeutung wohl der Fundort haben könnte. Gewohnt hatte Susannah in einem kleinen Apartment in Medford, ganz in der Nähe ihrer Arbeitsstelle. Doch gefunden hatte man sie an einem See, knapp dreißig Meilen entfernt. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf, als er darüber nachdachte. Was zum Teufel hatte sie dazu gebracht, ihr Leben ausgerechnet am Shadow Lake zu beenden?
Als Ryan einen Stapel Bücher aus dem obersten Regalfach nahm und in den Karton packen wollte, fiel ihm plötzlich eine Ecke weißen Papiers auf, die aus einem der Bücher hervorragte. Bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um eine Ausgabe von Stolz und Vorurteil von Jane Austen handelte, ein Buch, das seine Mutter besonders geliebt und häufiger gelesen hatte. Neugierig legte er die anderen Bücher zur Seite und zog das Papier zwischen den Seiten hervor. Es war ein Umschlag, der ziemlich abgenutzt aussah. Anscheinend hatte seine Mutter den Brief, der darin steckte, immer wieder gelesen und dann in dem Umschlag zurückgesteckt.
Als Ryan die gleichmäßige Handschrift erkannte, in der die Adresse seiner Mutter geschrieben war, musste er kurz schlucken. Es war Susannahs Schrift.
Er ließ sich in den nächsten Sessel sinken, zog den Brief aus dem Umschlag und begann zu lesen:
Liebe Mum,
Es tut mir leid, dass ich nicht früher dazu gekommen bin, Dir zu schreiben, aber ich hatte einfach so viel zu tun. Du weißt ja, dass man bei einem neuen Job schon ab und zu mal ein paar Überstunden machen muss. Schließlich will ich meinen neuen Chef davon überzeugen, dass ich fleißig und zuverlässig bin. Aber ich will mich nicht beklagen, die Arbeit macht mir viel Spaß und meine Kollegen sind alle sehr
Weitere Kostenlose Bücher