See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
nett zu mir. Morgen wollen sie mich sogar zu ihrem Kinoabend mitnehmen. Darauf freue ich mich schon.
Gestern habe ich mir für mein Wohnzimmer eine riesige Zimmerpalme gegönnt. Sie ist zwar eigentlich viel zu groß für den kleinen Raum, aber sie schafft eine klasse Atmosphäre, fast so als wäre man in der Karibik. Ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht noch mehr Pflanzen dazustellen könnte. Dann ist es beinahe wie in meinem eigenen kleinen Dschungel.
Aber natürlich muss ich noch jemanden finden, der die Pflanzen für mich versorgt, wenn ich mal nicht da bin.
In den nächsten Wochen kann ich natürlich noch keinen Urlaub bekommen, aber sobald mein Chef mir ein paar Tage freigibt, fliege ich sofort zu Dir nach Cambridge. Ein bisschen vermisse ich meine alte Heimat ja schon, auch wenn ich mich hier schon wirklich gut eingelebt habe.
Vielleicht kannst Du mich ja demnächst mal mit Ryan besuchen kommen. Meine Wohnung ist zwar ziemlich klein, aber irgendwie würde das schon gehen.
Ich freue mich sehr auf unser nächstes Wiedersehen und sende Dir einen ganz dicken Kuss.
Susannah
Fassungslos starrte Ryan auf das Blatt Papier in seiner Hand. Er las alles noch einmal Wort für Wort durch, dann sah er wieder auf das Datum. Susannah hatte den Brief am 16. Oktober geschrieben, an ihrem Todestag.
Ryan merkte, wie sich die Härchen an seinen Armen und in seinem Nacken aufstellten. Zimmerpalmen und Kinoabend – darüber schrieb doch niemand, der keinen Sinn mehr im Leben sah und seinen eigenen Tod plante. Was konnte passiert sein, dass sich innerhalb eines Tages alles für seine Schwester geändert hatte?
Wie er es auch drehte und wendete, dieser Brief passte überhaupt nicht mit Susannahs Selbstmord zusammen. Eine Weile blieb Ryan noch sitzen und überlegte. Dann fasste er einen Entschluss. Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste seines Büros.
Schon nach dem zweiten Klingeln meldete sich Cathy, seine Sekretärin und unentbehrliche Stütze.
»Hallo Cathy, ich bin es, Ryan«, begann er. »Bitte tu mir einen Gefallen und buche mir einen Flug, ja? Ich muss nach Oregon. Und zwar so schnell wie möglich.«
7. Kapitel
Als Tess am frühen Nachmittag wieder zu Ellens Haus zurückkam, war sie immer noch sehr niedergeschlagen. Ellens Beerdigung hatte sie mehr mitgenommen, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Um sich abzulenken, kochte sie sich eine kleine Portion Spaghetti mit Tomatensoße. Sie hatte zwar überhaupt keinen Appetit, hoffte aber, dass ihr eine kleine Stärkung trotzdem guttun würde. Obwohl sie immer noch enttäuscht war, dass keiner der Einwohner von Shadow Lake zu der Beerdigung gekommen war, spürte sie auch eine gewisse Erleichterung. Sie hätte der Höflichkeit halber alle anwesenden Trauergäste zu einer kleinen Feier ins Haus ihrer Tante einladen müssen. Allein bei dem Gedanken daran, dass unzählige Menschen, die nicht wirklich um Ellen trauerten, durch ihre Zimmer liefen und dabei aßen, tranken und fröhlich schwatzten, drehte sich ihr der Magen um. Sie war froh, jetzt eine Weile allein sein zu können.
Nachdem sie sich gezwungen hatte, zumindest die Hälfte der Spaghetti aufzuessen, setzte sie sich an Ellens Schreibtisch und begann, die Unterlagen ihrer Tante durchzusehen. Sie wollte so schnell wie möglich alle nötigen Angelegenheiten regeln, um bald wieder aus Shadow Lake herauszukommen. Spätestens bei der Beerdigung war ihr klar geworden, dass sie nichts mehr mit dem Ort verband, in dem sie eine so glückliche Kindheit verbracht hatte.
Zwei Stunden lang kämpfte Tess sich durch Versicherungsverträge, Kontoabrechnungen und anderen Papierkram. Zum Glück hatte Ellen penibel Ordnung in allem gehalten, wodurch Tess die Arbeit sehr erleichtert wurde. Wenn sie das Haus bald verkaufen konnte, wäre sie vielleicht schon in ein paar Tagen auf dem Rückweg nach San Francisco. Und selbst wenn sich spontan kein Käufer für das Haus fand, gäbe es immer noch die Möglichkeit, einen Makler einzuschalten, der den Rest für sie erledigte.
Tess ging in Ellens kleine Küche und machte sich eine Tasse Kaffee, bevor sie wieder an den Schreibtisch zurückkehrte. Inzwischen hatte sie fast alles durchgesehen, es fehlte nur noch die unterste Schublade. Mit ein bisschen Glück konnte sie also schon in wenigen Minuten fertig sein.
Sie streckte sich kurz, dann zog sie mit einem leisen Seufzer die Schublade auf. Er enthielt einen dicken Ordner und einen großen braunen
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