See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
erwartet.
Ryan sollte für ihn, einen erfolgreichen Immobilienmakler mit zahlreichen Angestellten, ein repräsentatives Bürogebäude entwerfen. Bei der Ausschreibung hatte er mit seinem Entwurf den Zuschlag erhalten. Er hatte ein modernes, fünfstöckiges Haus mit viel Glas präsentiert, das Elemente der umliegenden alten Gebäude aufnahm und so eine Verbindung zwischen moderner und traditioneller Architektur schuf.
Aber seitdem war fast kein Tag vergangen, an dem der Immobilienmakler keinen Änderungswunsch oder eine neue Idee gehabt hatte, sodass der derzeitige Plan für das Gebäude kaum noch etwas mit der Ursprungsidee zu tun hatte. Doch da es um den größten und bisher wichtigsten Auftrag ging, den Ryans kleines Architekturbüro bisher an Land gezogen hatte, fügte er sich notgedrungen den Wünschen seines Kunden. Zum Glück waren in der letzten Sitzung am Morgen seine Pläne endgültig abgesegnet worden, sodass er sich jetzt endlich um die Wohnung seiner Mutter kümmern konnte. Zumindest hoffte er, dass seinem Kunden in den nächsten Tagen keine neuen Ideen kamen.
Ein Anflug von Wehmut überkam ihn, als er in das gemütliche Wohnzimmer kam. Er hatte die Wohnung vor fünf Jahren mit seiner Mutter zusammen ausgesucht in der Hoffnung, dass eine neue Umgebung ihr über den Tod von Ryans Vater hinweg helfen könne. Als Max MacIntyre damals einen Herzinfarkt hatte und wenige Tage später im Krankenhaus gestorben war, war Diane in ein tiefes Loch gefallen. Vorher war sie ganz in der Rolle der Ehefrau des bekannten und geschätzten Harvardprofessors aufgegangen. Nur ganz langsam war es ihr nach dem Tod ihres Ehemanns gelungen, sich wieder ein eigenes Leben aufzubauen. Aber mit der Zeit hatte sie sich eine neue Beschäftigung in einem Hilfsverein für krebskranke Kinder gesucht. Sie hatte fast ihre gesamte Zeit dort verbracht und soviel Energie in ihre neue Arbeit gesteckt, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit unentbehrlich gemacht hatte.
Ryan konnte sich noch gut an Dianes erstes Lächeln seit dem Tod ihres Mannes erinnern. Sie hatte von einem kleinen Mädchen erzählt, dass eine seltene Art von Blutkrebs besiegt hatte und endlich wieder nach Hause zu seiner Familie durfte. Ryan hatte sich so über die neue Lebensfreude seine Mutter gefreut, dass er die ersten Anzeichen von Vergesslichkeit gar nicht wahrgenommen hatte.
Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er in dieser Zeit auch viel zu sehr mit dem Aufbau seines Architekturbüros beschäftigt gewesen war, um sich auch noch um die Probleme anderer zu kümmern.
Erst als sich mit der Zeit die Aussetzer häuften, hatte er begonnen, sich ernsthafte Sorgen um seine Mutter zu machen. Diane hatte häufig immer wieder die gleichen Fragen gestellt und des Öfteren Gegenstände nicht wiedergefunden, die sie erst kurz zuvor selbst weggeräumt hatte. Als sie dann aber eines Tages ratlos vor der Kaffeemaschine gestanden hatte, weil sie nicht mehr wusste, wie man sie bediente, hatte Ryan schon geahnt, was mit ihr los war.
Trotzdem war die Diagnose, die kurz darauf gestellt wurde, für ihn ein Schock gewesen: Seine Mutter hatte die Alzheimer-Krankheit, und es war noch eine Frage der Zeit, bis sie sich nicht mehr eigenständig versorgen konnte.
Ryan öffnete eines der großen Wohnzimmerfenster und blickte hinaus auf den Charles River, der träge vorbeifloss. Er erinnerte sich, wie begeistert seine Mutter schon bei der Besichtigung der Wohnung von dem Anblick gewesen war. Er war das ausschlaggebende Argument für sie gewesen, in Cambridge zu bleiben und nicht nach Boston zu gehen, wo Ryan wohnte. Stundenlang hatte sie seitdem am Fenster gesessen und die Enten und Schwäne beobachtet, die immer in Scharen angeflattert kamen, wenn ein Spaziergänger etwas trockenes Brot zum Füttern mitgebracht hatte.
In der ersten Zeit nach der schockierenden Diagnose war es Diane noch ganz gut gegangen, die Krankheit war nur sehr langsam vorangeschritten. Gelegentliche Aussetzer hatte sie mit einem entschuldigenden Lächeln oder einem flotten Spruch geschickt überspielt. Trotz der beginnenden Demenz hatte Diane ihr Leben weitgehend im Griff gehabt.
Das hatte sich aber schlagartig geändert, als sie die schreckliche Nachricht bekommen hatten.
Nur zu gut erinnerte sich Ryan an den Anruf, der ihn am 17. Oktober des vorigen Jahres früh am Morgen aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war der Sheriff eines kleinen Kaffs in Oregon gewesen, der ihm mit geschäftsmäßiger Stimme mitgeteilt
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